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Wilhelm Matull

 

Liebes altes Königsberg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsübersicht

 

 

In meiner Stadt am Pregel              3

Kindheitsparadies und erster Schulweg              11

Originelle Welt des Sackheim              19

Vom Roßgarten zum Geheimratsviertel              24

Zwischen Schloß und Dom              29

Stille Winkel und Plätze              36

Rings um den Pregel              45

Vom Kneiphof zum Habergebirge              54

Über den Steindamm zu den feinen Hufen              59

Große Geister grüßen Königsberg              65

Auch hier wohnen die Musen              69

Alma Mater Albertina              81

Für Freiheit und Recht              88

Rund um unsere Vaterstadt              96

Das war das Ende              101

Unvergeßlich und immerdar              113

Quellenangaben und Literaturhinweise              116

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In meiner Stadt am Pregel

 

Vor mehr als tausend Jahren schon regt schüchtern keimen­des Leben sich dort, wo hernach im Auf und Ab von Jahr­hunderten die Wohnstatt vieler Tausender erstehen sollte.

 

Freilich sind die uralten Pfade von Natangen nach dem Samland und ins Litauische noch wenig begangen, dunkle Wälder säumen sie schwarz und schweigend, aber zwischen ihnen steigt der Purpurball der Sonne genauso strahlend herauf, wie in unseren Tagen. Immer fegt Wind über Baumkronen und Gräser, und Wasser schimmert breit und blank aus Niederun­gen und Wiesen. Hingeduckt an Uferrändern oder versteckt in Waldlichtungen lugen rohrgedeckte Häuser hervor; Boote schaukeln auf den Fluten, und am Firmament ziehen Wolken in die Ferne.

 

Noch fallen keine Stunden vom Glockenschlag der Kirch­türme, und doch ist schon Leben da; Menschen wie du und ich, voll kerniger Gradheit und gastlicher Aufgeschlossenheit.

 

Wo im Fleiß von Jahrhunderten die Mauerwucht des Schlos­ses sich erhebt, gibt es an der Stelle der später entstandenen Kürassierkaserne und des nachmaligen Reichsbankgebäudes schon einen befestigten Platz der prussischen Urbewohner.

 

Auf einer von den umfangenden Armen des Pregelflusses abgekniffenen Insel, erst Knipaw, dann Kneiphof benannt, gehen Fischer ihrem kargen Handwerk nach. In einer waldgeschützten Lichtung drängen sich ein paar Hofstellen zu einem Dorf Trakkaim zusammen, woraus unser Tragheim wird. Eine durch Rodung entstandene Siedlung, deren Name wie saxtos kaimas klingt, wird zum Uranfang des Sackheims. Auch den Löbenicht gibt es schon in dürftigen Ansätzen im Prussen­dorf Lipnick, und am Wasser entlang stehen verstreut Hütten von Bauern und Fischern. Wo später einmal am Fischmarkt flutendes Leben sein wird, wachsen gerade die ersten Nieder­lassungen und Speicher aus dem Boden. Bis hierhin kommen die Kaufherren der lübischen Hanse, die als erste den weiten Weg gen Osten wagen und schon 1242 eine Stadtanlage planen.

 

Aber eines Tages rasten Reiter an den Uferrändern des alten Urstromtales. Was sie mit klarem Blick erspähen, ist dies: wo die Flußkanten sich bis auf Steinwurfweite nähern, wo die uralte Bernsteinstraße vom Samland nach Natangen sich mit der Handelsstraße kreuzt, die aus den fruchtbaren Gefilden Litauens hereinführt, wo dicht dabei der jäh anstei­gende Klotz des Hügels Tuwangste aufragt und sich förmlich zum Burgbau anbietet, da wird die Gründung einer Stadt ge­radezu eine Forderung des Schicksals.

 

Von hier aus ist es ja nur ein halber Tagesritt, dann stamp­fen die Pferdehufe den endlos sich dehnenden Uferrand der Ostsee, und in die Ohren dröhnt das ewige Brandungslied des Meeres. Staunende Augen können sich nicht sattsehen an dem ruhelosen Spiel der Wogen, die donnernd gegen Strand und Küste rennen. Ganz in der Nähe aber wiegen sich lieblich die Binsen an den Rändern des sich „grau und schlaff“ dehnenden Haffes.

 

Nun strömen Anno 1254 aus allen Teilen Deutschlands Bauernsöhne und Kaufleute, Ritter, die sowohl dem Schwert als auch der Bibel dienen, zu jener Stätte, an der sich der Strom ästelt und den Kneiphof zu einer Insel formt. In har­tem Ringen mit den Urbewohnern, schließlich aber in Gemein­samkeit mit ihnen, ersteht jenes wunderliche und dennoch ein­malige Staatsgebilde der Deutschordensritter, die betende Mönche, streitbare Krieger und wägende Kaufleute zugleich sind.

 

Im Jahre 1255 wird ein neues Blatt im Buch dieser Ge­schichte aufgeschlagen: König Ottokar von Böhmen zu Ehren werden Berg und Burg fortan Königsberg benannt. An ihn er­innert auch das älteste Komtursiegel aus dem Jahre 1262, das einen thronenden König nebst Krone, Zepter und Reichsapfel zeigt. Übrigens wird Königsberg 1286 mit kulmischem und nicht, wie die meisten Hafenstädte, mit lübischem Recht aus­gestattet, worin sich bereits der vorherrschende Einfluß des Deutschen Ritterordens gegenüber der Hanse ausdrückt.

 

Fast ein halbes Jahrtausend quillt nun aus solchem Urgrund herauf, was erst allmählich zu einem Gemeinwesen zusammen­wachsen konnte. Zuerst kommt der Pregel an die Reihe und muß sich dem Brückenschlag so oft beugen, daß der Mathe­matiker Euler sich daraus einen Spaß machen kann, mit dem man viele Generationen in den Schulstuben quält, denn nie­mand hat es vermocht, Königsbergs Brücken so zu passieren, daß er dabei keine doppelt überschreiten mußte.

 

Wie Rom ist Königsberg eine Siebenhügelstadt mit Schloß­berg, Mühlenberg, Schiefer Berg, Rollberg, Bauernberg, Butter­berg und Haberberg. Unterhalb dieser Erhebungen der samländischen Platte muß man mühselig Pfahlrost um Pfahlrost in den moorigen Grund rammen, damit er Häuser und Kirchen tragen kann. Am Dom haben wir mit eigenen Augen nach­prüfen können, wie dieses Bauwerk unter seiner Last dennoch Jahr um Jahr absank.

 

Viele Sümpfe und Tümpel werden in zähem Mühen trocken­gelegt, an anderer Stelle Teiche und Gräben angestaut, die sich als Schloß- und Oberteich, als Wirr- und Landgraben bis auf unsere Zeit erhalten haben. Straßen recken sich in die Länge und Breite, und aus alledem entsteht ein Mosaik von Städten und Vorstädten, das ein verwirrendes Vielerlei birgt, ehe es durch königliches Dekret zur Einheit zusammengezwungen wird.

 

Da residiert hinter dem mächtigen Gemäuer des Schlosses die Landesherrschaft, und ihr gehören Burgfreiheit, Tragheim, Roßgarten, Neue Sorge (Königsstraßengegend) und der Sack­heim. Außerhalb der Stadtumwallung dienen dem Orden noch Spittelhof, Contienen und Kalthof als Versorgungsstätten.

 

Da besitzt die Kirche den östlichen Teil der Kneiphofinsel und erbaut darauf als Sinnbild ihrer Herrlichkeit Dom und Bischofssitz.

 

Schließlich gibt es, hingestreckt unter dem Schutz von Schloß und Dom, drei selbständige Städte, die ihrerseits wiederum eigene Vorstädte haben.

 

Die Altstadt empfängt schon 1286 ihre „Handfeste“ und wächst so schnell, daß der Ritterorden solchen Machtzuwachs beargwöhnt und 1300 eine Neustadt gründet. Aber dieser Name setzt sich nicht durch, und schließlich übernimmt man den Volksnamen Löbenicht. Der 1327 als Stadt anerkannte Kneiphof sollte ursprünglich Voigtswerder oder auch Pregelmünde heißen, aber hier bleibt es ebenfalls bei der prussischen Herkunftsbezeichnung.

 

Zur Altstadt gehören Steindamm, Neuer Roßgarten, Laak, Lastadie und später auch das Lomseviertel. Der Kneiphof er­hält Vordere und Hintere Vorstadt, Haberberg und Nassen Garten. Nur der Löbenicht muß sich mit Anger und Stegen begnügen.

 

Die Altstadt wird führend und erhebt Anspruch auf den Vorsitz im Rat der drei Städte, wenn es um gemeinsame An­gelegenheiten geht. Der Kneiphof wird als Stätte des Hafen­umschlags, des Stapelrechts und Geldgeschäfts rasch wohlha­bend. Allein der Löbenicht bleibt der arme Schlucker, der seinen Kohl pflanzt und höchstens ein Bier braut. So heißt es denn auch in einem alten Spruch:

 

„In der Altstadt die Macht,

im Kneiphof die Pracht,

im Löbenicht der Acker!“

 

Beinahe wäre noch eine vierte Stadt aus der Taufe gehoben worden, denn die Bewohner der zum Schloß gehörenden Burg­freiheit wollten als Friedrichsstadt gar zu gern Stadtrechte haben. Aber damit fanden sie bei dem sparsamen Friedrich Wilhelm I. taube Ohren. Er hielt den ganzen Zustand ohne­hin für einen kostspieligen Verwaltungswirrwarr und dik­tierte eine neue Stadteinheit durch das „Rathäusliche Regle­ment“ vom 13. Juni 1724.

 

Das älteste Siegel der Altstadt zeigte einen geharnischten Ritter mit Krone und Lilienzepter in der rechten Hand, am linken Arm trägt er einen mit Kreuz und Adler geschmückten Schild. Diese Darstellung war eine Huldigung an König Otto­kar von Böhmen. Doch tauche bereits vor 1367 ein großes Sekretsiegel auf, auf dem ein Kreuz und darüber eine Krone sichtbar ist. Diese Fassung verdrängte den gewappneten Kö­nigsritter.

 

Das Wappen vom Löbenicht ist bis 1416 verfolgbar. Sein Inhalt ist eine Krone; über und unter ihr leuchtet ein sechsstrahliger Stern.

 

Auch das Wappen des Kneiphofs blieb unverändert. Schon vor dem Jahr 1372 hatte es die gleiche Form wie in unseren Tagen: ein aus Wellen auftauchender Arm trägt eine Krone, zu beiden Seiten des Armes schweben Hörner. Die Wellen sind ein Hinweis auf die Insellage.

 

Außerdem führten der Sackheim und die Freiheiten Trag­heim, Roßgarten, Neue Sorge sowie die Vorstadt eigene Wap­penbilder.

 

Als Schildhalter dienten der Altstadt Löwen, dem Kneiphof Bären (daher die beiden Bärenplastiken an der Freitreppe des Kneiphöfschen Rathauses und der Bär an Kunzes Apotheke), dem Löbenicht Jungfrauen. Das Aufgebot der drei Teilstädte zog unter der Fahne der Altstadt ins Feld.

 

Bei der Vereinigung zu einer Stadtgemeinde 1724 wurden die Wappen der drei Teilstädte bei geringfügiger Änderung der Farben unter die Flügel des preußischen Adlers gestellt. Einige Abweichungen, die das Wappen erfuhr, wurden 1906 bereinigt. Seit diesem Jahre führt Königsberg amtlich wieder das 1724 gegebene Wappen mit dem Adler.

 

Die Flagge Königsbergs weist dieses Wappen auf weißem Felde mit roten Randstreifen auf. Die Wappen der früher selbständigen Städte zeigt sie in folgender Farbgebung:

 

Altstadt: Rote Krone im weißen Feld; weißes Kreuz im roten Feld.

 

Löbenicht: Goldene Krone und goldene Sterne auf blauem Grund.

 

Kneiphof: Blauer Ärmel aus grünen Wellen auf grünem Grund (grün war die Farbe des Kneiphofs, daher das Grüne Tor an der Grünen Brücke); ferner goldene Krone und goldene Hörner.

 

Jetzt nennt sich der Rat der vereinheitlichten Stadt Ma­gistrat; er besteht aus drei Bürgermeistern und sechzehn „Senatores ordinarii“. Es gibt schon einen „dirigierenden Bürger­meister“, dem der Titel Oberbürgermeister verliehen werden kann. Ein späteres „Reglement für den Magistrat der Haupt­stadt Königsberg in Preußen“ vom 28. Juni 1783 nennt aus­drücklich den Oberbürgermeister, der zugleich Polizeidirektor ist, und zehn Stadträte. Freilich sind sie alle, mit Ausnahme ihrer freien Wahl, letzthin doch abhängige Staatsbeamte. Das sollte erst nach der Städteordnung von 1808 anders werden.

 

Am 28. August 1724 ist endlich der große Tag herange­kommen, an dem Königsberg als einheitliches Stadtgebilde aus der Taufe gehoben wird. Im Rahmen eines Festaktes findet im Sitzungssaal des Altstädtischen Rathauses die feierliche Ver­einigung der bis dahin getrennten Räte und Gerichte der Städte Altstadt, Löbenicht und Kneiphof statt.

 

Von der Größe dieser Stunde für die weitere Entwicklung Königsbergs ahnen freilich die wenigsten Mitlebenden etwas, verzeichnet doch der Stadtchronist aus diesen Jahren folgendes Schildbürgerstück: „Als es anfing zu brennen, machten die Alt­städter ihre Thore auf, um den Kneiphöfern zu Hülfe zu kom­men, fanden aber die Thore derselben noch fest verschlossen und brachen sie ein, um Hülfe mit Löschen und Retten zu leisten. Als sie ihre Verwunderung darüber zu erkennen gaben, daß die Kneiphöfer in solcher Noth ihre Thore zugehalten hätten, machte ihnen ein Ratsherr darüber Vorwürfe, daß sie die Thore aufgebrochen und der Stadt Schaden gethan; man stünde mit ihnen gar nicht in so gutem Vernehmen, ihre Hülfe zu verlangen.“

 

Zeiten kommen und Zeiten gehen! Längst stehen Schloß und Dom, am Bischofssitz erhebt sich die Universität, aus Ordenshochmeistern sind weltliche Herzöge geworden. Ihnen folgen Kurfürsten und Könige, von denen sich zuerst 1701 Friedrich I. und als letzter 1861 Wilhelm I. in der Schloßkirche die Krone aufs Haupt setzen. Festliche, durchschnittliche, aber auch angst­erfüllte Tage lösen sich in bunter Reihenfolge ab. An den Hafenkais mehren sich Koggen und Kähne, im Pregelstrom spiegelt sich das Bild fachwerkbunter Speicher, Brücken breiten ihre Schwingen, und Gewirr und Geschäftigkeit füllen Straßen und Gassen.

 

Königsberg wird wohlhabend, und Wohlleben hält Einzug. Wenn gut verdient wird, darf man auch feiern, und so folgen Feste und Gelage der Adligen und Patrizier im Junker- und Artushof, der Bürger und Handwerker in Gemeindegärten; schließlich kommt auch das einfache Volk zu seinem Recht und verlustiert sich im „Salon auf der Lucht“. Aus Brunnen fließt dann und wann roter und weißer Wein, Ochsen werden am Spieß gebraten, Schmeckbier gibt es gratis, Fischer führen ein Fischstechen, Zimmerleute und Waffenschmiede Beil- und Schwerttänze vor, und die Böttcher und Braugehilfen zeigen ihre Geschicklichkeit im Bügeltanz. Am Neujahrstag geleiten hundert Fleischer eine Riesenwurst durch die Straßen der Stadt. Diese verehren sie den Bäckern, die sich ihrerseits am Dreikönigstag mit einem großen Strietzel revanchieren.

 

Schiffe bringen als kostbare Fracht flandrische und englische Tuche, Heringe, Reis, Wein, öl und Salz herein, wohingegen die Erträge unserer Heimat und ihres Hinterlandes im Aus­tausch nach Skandinavien, den Niederlanden und England gehen.

 

Während das große Vaterland dreißig Jahre hindurch vom Schlachtenlärm des Glaubenskrieges widerhallt, wird unsere Vaterstadt zur Oase und Zuflucht in wirrer Zeit. Heinrich Albert wird Organist am Dom und Hofkompositeur, Simon Dach Professor der Poesie an der Albertusuniversität.

 

Und nun blüht eine Idylle auf: nahe am Pregel, im Gärtchen Heinrich Alberts am Lindengraben oder auch im Schatten des Doms, wo Simon Dach seine Hausstatt hat, trifft sich ein den Musen dienstbarer Freundeskreis, als dessen Gast auch ein Martin Opitz in Königsberg weilt. In solcher Umgebung ent­stehen Verse und Lieder, die bis auf den heutigen Tag lebendig geblieben sind, etwa der Frühlingsgruß „Wir sehn jetzt sich er­freuen der Erden ganzes Haus“ oder das von herbstlicher Weh­mut erfüllte „Jetztund heben Wald und Feld wieder an zu klagen“. Aber als Rührendstes hat sich wohl doch jener Freund­schaftshymnus erwiesen: „Der Mensch hat nichts so eigen, so wohl steht ihm nichts an, als daß er Treu erzeigen und Freund­schaft halten kann.“

 

Wie gern wandern unsere Gedanken den langen Weg durch die Jahrhunderte zurück zu jener Kürbishütte, deren Tür sich auch für uns auf tut. Was dieser Freundesbund in allegorischem Spiel auf die Kürbisse ritzte, die sich um seine Versammlungs­laube rankten, diese Symbole eines fruchtbaren, aber zugleich an die Vergänglichkeit mahnenden Daseins, das meinen auch wir lesen zu können: besinnlich gelebtes Leben, sich verschwen­dend schenkende Freundschaft und Liebe, in solcher Bewegt­heit und Empfindung ein getreuliches Abbild der Barockzeit mit der Gegensätzlichkeit von sinnenhafter Lebensfreude und entsagender Todesahnung.

 

Ach, was würden wir darum geben, einmal nur unter dem Schutz des Doms an einem Plätzchen ausruhen zu dürfen, wie es Simon Dach preist: „Wenn ich die Tür auftat, so schlug mir zu Gesichte ein kleines Paradies; wen haben seine Früchte, wie klein er immer war, nicht neben uns erfreut? Wie wahrlich mußt er sein, ein Hort der Fröhlichkeit. Wie manches Lied hob ich zu der Zeit aufgesetzt, mit dem sich Königsberg noch diese Stund ergötzt!“

 

Und wir denken sogleich an „Anke von Tharow“, das so sehr Allgemeingut des Volkes geworden ist, daß wir nicht mehr mit Sicherheit zu sagen vermögen, ob dieses Hochzeits­poem für die Pfarrerstochter Neander, das wir heute in der Vertonung von Sucher singen, ursprünglich Simon Dach oder, wie vermutet wird, Heinrich Albert zum Komponisten und Dichter hat. Ist das aber so wichtig? Die Hauptsache bleibt doch, daß wir es genauso gerne hören wie in den Tagen Simon Dachs, als noch „die Bursch umb Abendzeiten - Rings umb den Kneiphoff gehn und spielten auf den Saiten - daß Stadt und Lufft erklang“.

 

In dieses niemals auszulesende Buch unserer Vaterstadt trägt die Zeitgeschichte auch andere Runen ein. Stürme toben, Was­ser gurgeln, Kälte wird riesengroß. Vom Jahre 1709 heißt es: „Anfang Mai fuhr -man noch mit Schlitten auf der Ostsee. Die ersten Schiffe kamen in Königsberg den 15. Mai an. Millionen Bäume erstarben, das Wintergetreide war bis auf den Grund ausgefroren und mußte umgepflügt werden.“ Hungersnot und Pestilenz halten Einzug, lassen ganze Dörfer und Landstriche aussterben und zur Wüstenei werden, und um die Wende von 1709 zu 1710 wütet das Unheil auch in Königsberg so grausig, „daß das Läuten fast den ganzen Tag währte, wodurch die Leute in große Wehmut und Furcht gesetzt werden.“

 

Dann plötzlich jagen Feuersbrünste Angst und Schrecken ein. Die Chronik Königsbergs ist voll von solchen Entsetzens­tagen. 1764 brennen 369 Häuser auf dem Löbenicht, Anger und Sackheim nieder, 1769 sinken in der Vorderen Vorstadt 76 Häuser und 143 Speicher in Schutt und Asche, 1775 werden 351 Behausungen im Bereich des Alten Gartens, des Haber­bergs, der Hinteren Vorstadt und des Weidendamms zerstört, 1811 gehen 144 Häuser und 134 Speicher des Kneiphofs und der Vorstadt in Flammen auf. Riesenvermögen werden ver­nichtet, mancher muß den Bettelstab zur Hand nehmen, und aus der Asche aller dieser Brandstätten schüttet man den Trä­nen- und den Millionendamm. Aber immer wieder erheben sich Wagemut und Tatkraft über die Niederungen des Daseins, neues Leben ersteht aus Ruinen, und Bauten wie Plätze kün­den von Erfolg und Leistung. Inmitten einer solchen Epoche, die das Vergängliche ins Gegenwärtige zu ziehen weiß, „auf der Brücke, welche die Vorsehung über einen Teil des Ab­grundes der Ewigkeit geschlagen hat“, erhebt sich über Dump­fem und Kleinlichem jener Gedankenbau, welcher „der Philo­sophie eine dauerhafte Art, eine andere uns vor Religion und Sitte weit vorteilhaftere Wendung“ gibt. Da ist Königsbergs größter Sohn Immanuel Kant, und mit ihm hebt unsere Ster...

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