Die Zeit 2010 13.pdf

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DIE ZEIT
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
Preis Deutschland 3,80 €
Nr. 13
25. März 2010
Die Schule
des Schreckens
Trotz allem, Glückwunsch!
Wie ist es zu erklären,
dass der massenhafte
Missbrauch an der
Odenwaldschule über
Jahrzehnte nicht an die
Öffentlichkeit gelangte?
Hartmut von Hentig
klagt über »arglistige
Verdächtigungen«
DOSSIER
SEITE 17–19
Zum 80. Geburtstag von Helmut Kohl: Wie Helmut Schmidt seinen Nachfolger
als Kanzler sieht ZEITMAGAZIN Außerdem: Bei Hofe – die engsten Mitarbeiter erinnern sich.
Dazu Bernd Ulrich: Warum Kohl die ZEIT nicht mag POLITIK SEITE 2/3 FEUILLETON SEITE 51
Die Sommerzeit stört
Titel: Helmut Schmidt gratuliert Helmut Kohl, seinem Nachfolger als Bundeskanzler, am 1. Oktober 1982 im Deutschen Bundestag in Bonn; Foto: Rolf Braun/Keystone (Ausschnitt)
Sind wir zu billig?
Der eiserne Obama
Geburtstag eines Ärgernisses:
Seit 30 Jahren raubt uns die
Zeitumstellung den Schlaf
WISSEN
Lohndumping, um den Export anzukurbeln? Bei den Nachbarn in Europa
wächst die Kritik am deutschen Erfolgsmodell VON MATTHIAS NASS
Die amerikanische Gesundheitsreform zeigt: Es lohnt sich,
wenn ein Politiker gegen alle Widerstände Kurs hält VON MARTIN KLINGST
SEITE 41/42
A uf zwei Titel waren die Deutschen seit
S eit vierzehn Monaten ist Barack Obama
betreuung war so vorbildlich wie eh und je. Jetzt
ist das Staunen groß, draußen und auch daheim.
Deutschland ist besser durch die Krise gekom-
men als die meisten Industriestaaten.
Nun trägt Tüchtigkeit nicht eben zur Beliebt-
heit bei. Und die Logik gebietet: Überschüssen
stehen immer Defizite gegenüber, die Summe
aller Ein- und Ausfuhren ist null. Setzen Deutsch-
land und China ihre Exportoffensive ungebremst
fort, gehören am Ende auch sie zu den Verlierern,
wenn nämlich ihre Kunden pleite sind. Daher
gilt: Wer exportieren will, der muss auch kon-
sumieren. Der Welthandel darf nicht völlig aus
dem Gleichgewicht geraten. Die Gefahr eines
Rückfalls in den Protektionismus wäre sonst
groß. In Amerika ertönt schon jetzt der Ruf nach
weiteren Strafzöllen gegen China.
Trotzdem muss man die Diskussion um das
deutsche Wirtschaftsmodell nicht allzu ernst
nehmen. Das weiß die kluge Christine Lagarde
selbst am besten. Es ist ein Segen für das ganze
Europa, wenn die stärkste Volkswirtschaft pro-
duktiver wird. Denn wir konkurrieren ja, mit
Verlaub, nicht so sehr mit Griechenland, sondern
mit Japan, den Vereinigten Staaten und den auf-
strebenden Schwellenländern China und Indien.
Deutschland steht in einem globalen, nicht in
einem regionalen Wettbewerb.
Die Exportorientierung ist der beste Garant
der Innovation. Nur eine Volkswirtschaft, die
sich der globalen Konkurrenz stellt, bleibt tech-
nologisch an der Spitze. Am Niedergang der
amerikanischen Autoindustrie lässt sich be-
obachten, wie schnell der technische Vorsprung
verspielt ist, wenn es einen nicht kümmert, ob
außerhalb der eigenen Landesgrenzen noch ir-
gendjemand die gestrigen, Sprit saufenden Vehi-
kel aus Detroit kauft.
Im Jahr 2000 hatten sich die EU-Regierungs-
chefs in Lissabon vorgenommen, Europa inner-
halb von zehn Jahren zum »wettbewerbsfähigsten
und dynamischsten wissensbasierten Wirt-
schaftsraum der Welt« zu machen. Das mochte
hochtrabend klingen, und daraus ist auch nicht
viel geworden. Aber der Ehrgeiz bleibt richtig.
Die Europäer müssen ihre Kräfte bündeln – wie
bei Airbus, dem heute modernsten Flugzeug-
bauer der Welt, der das unangreifbar scheinende
Monopol von Boeing gebrochen hat.
Es gibt Märkte, auf denen Europa erschre-
ckend hinterherhinkt, etwa in der Computer-
und Internet-Technologie. Wir müssen uns aber
an Apple, Google und Microsoft messen lassen,
an Sony und Samsung; darüber müsste in der
europäischen Familie eigentlich Einigkeit herr-
schen. Was hilft es, wenn sie in Tokyo, Shanghai
und San Francisco ihre Siege mit Champagner
feiern, während wir unsere Niederlagen mit grie-
chischem Metaxa begießen?
heraus regiert er auch. Deshalb sind Rechte wie
Linke oft ebenso begeistert wie enttäuscht, mal
wegen der Gesundheitsreform, mal wegen der
Afghanistanpolitik.
Im Grunde ist Barack Obama ein Paradox:
Von unbedingtem Veränderungswillen, unzwei-
deutig in seinen Zielen, aber pragmatisch und
völlig unorthodox auf dem Weg dorthin, ist der
junge Präsident ein Revolutionär der Mitte. Jetzt
hat er bewiesen, dass er dafür auch den unbeug-
samen Willen, die Nervenstärke und die nötige
Durchsetzungskraft besitzt.
Auf einmal zeigt sich wieder jener Obama,
auf dessen Persönlichkeit und dessen Verheißun-
gen daheim und in aller Welt so viele ihre Hoff-
nung gesetzt haben, aber an dessen Entschlossen-
heit sie mit der Zeit zu zweifeln begannen. Er
verzettelte sich, wirkte unkonzentriert, packte
viel zu viel auf einmal an und brachte nichts
wirklich voran: weder in Guantánamo noch im
Nahen Osten, weder bei den Abrüstungsver-
handlungen mit Moskau noch beim Klima-
schutz.
War er doch nur ein Schönredner? Die Ge-
sundheitsreform hat diesen Verdacht ausgeräumt,
sie ist ein Befreiungsschlag. Auf einmal scheint
wieder vieles möglich. Es heißt, in wenigen Wo-
chen könnten Obama und der russische Prä-
sident Medwedjew sogar das überfällige Start-
Abkommen zur Reduzierung strategischer
Atomwaffen unterzeichnen.
Nun sollte man den alten Fehler nicht wie-
derholen und Obama erneut zur Projektionsflä-
che überzogener Erwartungen machen. Die Ver-
hältnisse in Washington und in der Welt erlau-
ben keine schnellen Erfolge. Nach dem erbitter-
ten Kampf um die Gesundheitsreform wird
Obama darum seine Anstrengungen bündeln
und seinem skeptischen Volk vor allem demons-
trieren, dass er nach wie vor in der Mitte steht,
den Konsens sucht und Amerika nicht im Hau-
ruck-Verfahren umkrempeln will. Gleichwohl ist
wieder Bewegung in die Politik gekommen; die
Obama-Regierung verfügt nun über einen zwei-
ten Atem. Plötzlich erscheinen neue Regeln für
den Finanzmarkt, gar ein Klimaschutzgesetz
nicht mehr als bloße Utopie.
Die Obama-Präsidentschaft hätte ein Nein
zur Gesundheitsreform gewiss überstanden. Aber
ein Scheitern hätte sie in ihrem Wesen verändert,
es hätte die vielen an sie geknüpften Hoffnungen
zerstört, auch Obamas eigene Erwartungen. An-
ders als damals Bill Clinton hätte er nicht ein-
fach die Bremse ziehen, in die entgegengesetzte
Richtung marschieren und ein völlig anderer
Präsident werden können. Deshalb riskierte
Obama alles und warf sein gesamtes politisches
Gewicht in die Waagschale. Diese Entschieden-
heit hat sich ausgezahlt. Ein starker Präsident ist
gut für Amerika – und für die Welt. Vor allem
wenn er Barack Obama heißt.
ZEIT ONLINE
Kampf gegen Zwangsheirat:
Aylin Korkmaz überlebte den
Angriff ihres Exmannes
seligen Wirtschaftswunderzeiten von
Herzen stolz. Fußballweltmeister: Das
waren wir dreimal. Und Exportwelt-
meister: Das waren wir in jüngster Zeit eigentlich
immer. »Exportweltmeister Deutschland«, das las
sich wie Bayern München. Oder Real Madrid.
Zwei Wörter, ein Begriff.
Seit dem vergangenen Jahr sind wir es nicht
mehr. Da hat uns China abgehängt. Die Volks-
republik exportierte Waren für 1202 Milliarden
Dollar, die Bundesrepublik für 1121 Milliarden.
Die Niederlage war knapp, aber schmerzhaft.
Und ausgerechnet in diesem Moment kommt
aus Paris der Vorwurf: Ihr exportiert zu viel!
Konsumiert mal lieber etwas mehr! Erhoben hat
ihn die Wirtschafts- und Finanzministerin Chris-
tine Lagarde.
Madame Lagarde hat es so formuliert. Die
deutschen Exportüberschüsse, zurückzuführen
auf niedrige Lohnkosten, seien für die anderen
EU-Staaten »unhaltbar«. Könnte die deutsche
Regierung, könnten Unternehmer und Kon-
sumenten »nicht ein klein wenig mehr tun«? Die
Steuern senken, höhere Löhne zahlen, mal wie-
der shoppen gehen?
Mitten in die Debatte um die Rettung Grie-
chenlands platzt also eine Kontroverse um das
deutsche Wirtschaftsmodell. Mit dieser Wen-
dung hatten die Berliner – die gerade barsch ge-
rufen hatten: Von uns gibt’s kein Geld! – am al-
lerwenigsten gerechnet. Jetzt sind sie ein bisschen
beleidigt. Und ziemlich ratlos.
Ist es Neid? Will die Regierung in Paris von
eigenen Fehlern ablenken? Oder sollte etwas
dran sein an der französischen Kritik?
im Amt, und schon zweimal hat er Ge-
schichte geschrieben. Gegen alle Widrig-
keiten wurde er der erste schwarze Prä-
sident der Vereinigten Staaten. Jetzt verändert er
gegen alle Widrigkeiten sein Land. Der Meister
der Rede hat Wort gehalten und löst mit der
Einführung einer allgemeinen Krankenversiche-
rung sein wichtigstes Wahlversprechen ein. Den
Amerikanern und der ganzen Welt demonstriert
Obama: Ich kann es doch!
Um ein Haar wäre die Gesundheitsreform
erneut gescheitert, wie so oft schon in den ver-
gangenen hundert Jahren. Der Widerstand war
riesig und wird enorm bleiben, mindestens bis zu
den Kongresswahlen im November. Für die ei-
nen ist das Bestreben, jedermann gegen Krank-
heit zu versichern, ein ökonomisches und mora-
www.zeit.de/korkmaz
a
PROMINENT IGNORIERT
Tankwart Köhler
Der Mensch sehnt sich genau so
lange nach der Stimme der Ver-
nunft, bis sie anfängt zu sprechen.
Dann weiß man, dass es auch vor-
her ganz schön war. Das deutsche
Volk wollte unbedingt die Stimme
der Vernunft hören, die bei uns
Horst Köhler heißt. Er hatte zu
lange geschwiegen. Jetzt sprach er
und sagte: Das Benzin ist zu billig.
Da dachte das Volk: Eigentlich
fahren wir Super mit einem Prä-
sidenten, der schweigt.
Die nächste Ausgabe
der ZEIT erscheint
vor den Osterfeiertagen schon am
MITTWOCH, DEM 31. MÄRZ 2010
lisches Postulat; für die anderen hingegen ist es
staatliche Bevormundung, die Freiheit und
Selbstbestimmung zerstört. Der Disput trifft den
Nerv des amerikanischen Selbstverständnisses.
Doch warum sollte sich außerhalb der Ver-
einigten Staaten irgendjemand dafür interessie-
ren? Warum sollte der Erfolg dieser amerika-
nischen Jahrhundertreform irgendeinen Men-
schen in Berlin oder Moskau, in Jerusalem oder
Peking beschäftigen?
Außenministerin Hillary Clinton hat auf der
Jahresversammlung des israelisch-amerikani-
schen Lobbyvereins Aipac die Antwort darauf
gegeben: Wer immer noch an Obamas Ent-
schlossenheit zweifle, rief sie aus, der möge doch
bitte auf die Gesundheitsreform schauen. Diese
Botschaft richtet sich an die ganze Welt und lau-
tet im Klartext: Nehmt euch in Acht, Obama ist
ein starker Präsident!
Wer eigentlich ist Barack Obama? Diese Fra-
ge treibt die Menschen noch immer um. Rechte
Amerikaner hätten vor Kurzem darauf geant-
wortet, er sei ein arroganter Intellektueller, ein
verkappter Ideologe, ein gefährlicher Etatist, zu
weich und zu kompromissbereit für die harten
Probleme dieser Welt. Linke hätten gesagt: Ein
Hoffnungsträger, aber zu biegsam, ohne rote Li-
nie und ausreichenden Biss, außerdem viel zu
nachsichtig gegenüber Quertreibern und Re-
formverweigerern. Für die einen hat er die politi-
sche Mitte verraten, die seinen Wahlsieg möglich
gemacht habe; für die anderen ist er viel zu weit
dorthin gerückt.
Beides ist falsch, und die erbitterte politische
Schlacht in Washington vernebelt dies: Obama
stand schon immer in der Mitte, und aus ihr
F.I.
Kleine Fotos: Alex Grimm/Getty Images; Rubberball/
Corbis; Carsten Koall/Visum (v.o.n.u.)
Tüchtigkeit macht uns bei den
Nachbarn nicht eben beliebter
»Lohndumping« lautet der Vorwurf. Deutsch-
land zahle seinen Arbeitern und Angestellten
weniger Geld, als es könne, um so gegenüber den
Nachbarn konkurrenzfähiger zu sein. Worauf
die deutsche Politik stolz ist, nämlich die Lohn-
kosten niedrig gehalten zu haben, wird ihr als
boshafte Wettbewerbsverzerrung ausgelegt.
Und wirklich: Zwischen 2000 und 2008 san-
ken hierzulande die Lohnstückkosten preisberei-
nigt Jahr für Jahr um durchschnittlich 1,4 Pro-
zent; in Frankreich stiegen sie im selben Zeitraum
jährlich um 0,8 Prozent, in Großbritannien um
0,9 Prozent. Deutschland hat seine Konkurrenz-
fähigkeit demnach tatsächlich »erbarmungslos«
(Economist) gesteigert. Das war so gewollt.
Was war nicht zuvor gejammert worden. Die
Gewerkschaften! Die Mitbestimmung! Der lange
Urlaub! Die ganze Unbeweglichkeit! Und die
deutsche Technikfeindlichkeit!
Alles Unsinn. Die schwäbischen Mittelstands-
tüftler fanden tausend Marktlücken. Großanla-
genbauer übergaben in China oder in arabischen
Ländern ganze Industriekomplexe. Die Kunden-
ZEIT Online GmbH: www.zeit.de;
ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
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Fax 0180 - 52 52 908*,
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*) 0,14 €/Min. aus dem deutschen Festnetz,
Mobilfunkpreise können abweichen
Preise im Ausland:
DKR 41,00/FIN 6,40/E 4,90/Kanaren 5,10/
F 4,90/NL 4,30/A 4,10/CHF 7,10/I 4,90/
GR 5,50/B 4,30/P 4,90/L 4,30/HUF 1420,00
NR.
13
Siehe auch Wirtschaft, Seite 25/26, 34 und 36
65. Jahrgang C 7451 C
a
www.zeit.de/audio
a
www.zeit.de/audio
878606443.049.png 878606443.060.png 878606443.071.png 878606443.074.png 878606443.001.png 878606443.002.png 878606443.003.png 878606443.004.png 878606443.005.png 878606443.006.png 878606443.007.png 878606443.008.png 878606443.009.png 878606443.010.png 878606443.011.png 878606443.012.png 878606443.013.png 878606443.014.png 878606443.015.png 878606443.016.png 878606443.017.png 878606443.018.png 878606443.019.png 878606443.020.png 878606443.021.png 878606443.022.png 878606443.023.png 878606443.024.png 878606443.025.png 878606443.026.png 878606443.027.png 878606443.028.png 878606443.029.png 878606443.030.png 878606443.031.png 878606443.032.png 878606443.033.png 878606443.034.png 878606443.035.png 878606443.036.png 878606443.037.png 878606443.038.png 878606443.039.png
 
POLITIK
2
25. März 2010 DIE ZEIT Nr. 13
Er, die Geschichte und wir
WORTE DER WOCHE
»Daran gemessen, waren die ersten
Monate enttäuschend.«
Horst Köhler, Bundespräsident, über die Arbeit der
Bundesregierung und die Erwartungen der Wähler,
die von der schwarz-gelben Koalition mehr Tatkraft
erhofft hätten
Zwischen Helmut Kohl und der ZEIT bestand immer ein Klassenunterschied. Eine Gratulation zu seinem 80. Geburtstag VON BERND ULRICH
H elmut Kohl ist ein großer Deutscher,
Kohl? Und was wäre aus dem Land geworden,
wenn Oskar Lafontaine Kanzler gewesen wäre oder
der von der ZEIT bewunderte damalige Bundes-
präsident Richard von Weizsäcker, der mit der
Einheit wenig anzufangen wusste?
Warum hegte die ZEIT nun diese Aversion ge-
gen Kohl? Aus einem schlechten und einem guten
Grund.
Der schlechte bestand weniger darin, dass der
ewige Kanzler politisch immer etwas anderes woll-
te. Er war kein Nationalist, er war ein ehrlicher
Europäer, er hatte wie die Linke eine tiefe Skepsis
gegenüber den Deutschen, weswegen er ihnen
auch nicht die Kosten der Einheit offenlegen woll-
te. Selbst in der Geschichtspolitik waren die Un-
terschiede geringer, als es seine sprachlichen Patzer
(»Gnade der späten Geburt«) glauben machten.
Nein, es ging weniger um politische Gegner-
schaft, es ging um einen Klassengegensatz.
Die ZEIT war lange bestimmt vom liberalen
hanseatischen Geldadel, vom protestantischen
Geistesadel und vom preußischen Adel, Dreifach-
adel sozusagen. Da musste Kohl als eher linkischer,
katholischer Kleinbürger aus der südwestlichen
Provinz erscheinen, nicht wert, die Republik zu
führen. Man erlaubte sich, über seine »Kinderstu-
be« zu lästern, beklagte spitznasig seinen Mangel
an Verfeinerung und Geschmack.
Als Rolf Zundel, der langjährige Bonner Kor-
respondent der ZEIT, Helmut Kohl Anfang 1989
das Wort vom unverrückbaren »Eichenschrank«
aufprägte, war das durchaus respektvoll gemeint.
Es traf allerdings auf eine Leserschaft, die ihre ei-
genen Eichenschränke schon längst durch Möbel
von interlübke ersetzt hatte.
Es war auf der anderen Seite aber genau jener
vornehm liberale Sensus, der die ZEIT schon früh
erkennen ließ, was das Gefährliche, ja Unheim-
liche an Helmut Kohl ausmachte. Immer wieder
spürte Gunter Hofmann dessen Freund-Feind-
Denken nach – lange vor der Spendenaffäre.
Damit hatte er das Vordemokratische erkannt,
das an Kohl eben auch ist. Der begründete seine
illegale Spendenpraxis mit der Gefahr, die die PDS
für Deutschland bedeute, für deren Bekämpfung
er, der Kanzler, teilweise, so dachte er, in den Un-
tergrund gehen musste. Das war er immer auch: im
Untergrund mit seinen Kameraden und Spezln.
Als Kohl durch die Spendenaffäre vor die Wahl ge-
stellt war zwischen seiner bündischen Loyalität und
dem Gesetz, wählte er den Bund und nicht das
Recht. Er hat damit seinen mittlerweile sehr demo-
kratisch, republikanisch gewordenen Deutschen
den Rücken zugewandt, bis heute.
Mit dieser dunklen Seite vor Augen muss man
sogar froh sein, dass Medien wie die ZEIT diesen
Mann mit ausdauernder Skepsis betrachtet haben,
und sei auch etwas Standesdünkel dabei gewesen.
Helmut Kohl ist ein großer Deutscher.
An dieser Stelle tut der Satz besonders weh.
Weil Kohl zugleich so groß und so klein ist. Er hat
wirklich die historischen Weichen für Deutsch-
land und Europa neu gestellt, mit der Einheit und
dem Euro. Zugleich war er oft wirklich nachtra-
gend und rachsüchtig.
Folgenreicher für dieses Land und für Europa
sind indes seine Verdienste, ist seine Größe.
»Das haben wir wohl alle gelesen,
was er gesagt hat. Dabei soll es auch
erst mal bleiben.«
Roland Koch, hessischer Ministerpräsident (CDU),
zu den Äußerungen des Bundespräsidenten
der mit Sicherheit in die Geschichte
eingehen wird.
Dieser Satz kommt einem merk-
würdig vor, gern würde man ihn sogleich etwas
einschränken. Schnell möchte man zum nächs-
ten Satz springen, zum übernächsten, Abstand
gewinnen, ihn aus sicherer Entfernung mit Fra-
gen bombardieren. Was soll das heißen, »groß«?
Hatte er nicht einfach Glück?
Helmut Kohl ist ein großer Deutscher.
Das wirkt auch deshalb etwas deplatziert, weil
es hier, in der ZEIT, steht, einem von den Blät-
tern, die zu ihm immer eine besondere Beziehung
hatten, meist keine gute. Soll hier am Ende etwas
widerrufen werden, kapituliert man vor ihm oder
vor seinem 80. Geburtstag? Und liegt darin nicht
eine Ungerechtigkeit des Lebens, weil etwa Hel-
mut Schmidt mehr Begabung zur Größe hatte als
historische Gelegenheit dazu?
Helmut Kohl ist ein großer Deutscher.
Der letzte längere Text, den die ZEIT dem schei-
denden Kanzler hinterherschrieb, fing anders an:
»Der Kanzler wäre ohne die Einheit nur Mittelmaß
geblieben.« Nur sieben Wörter brauchte es bis zum
Verdikt: Mittelmaß. Fast schade, dass die deutsche
Einheit dazwischenkam, die dann das Urteil über
Helmut Kohl so arg verfälschte.
Das Verhältnis zwischen dem altehrwürdigen
Kanzler und der altehrwürdigen ZEIT erzählt
viel über die Republik, wie sie einmal war.
Wobei, damit hier kein Missverständnis auf-
kommt: Was in dieser Zeitung über ihn während
dreier Jahrzehnte geschrieben wurde, das war
stets klug, zuweilen sogar positiv. Kohl selbst irr-
te, wenn er die ZEIT als Teil der – linken –
»Hamburger Mafia« abtat. Damit meinte er
Spiegel, stern und eben dieses Blatt. Kohl irrte
auch, wenn er die Aversionen, die er aus diesem
Hause zu spüren meinte, als ideologisch inter-
pretierte. Teil eines Lagerkampfes zwischen Kon-
servativen und Progressiven.
Überhaupt muss man sagen: Wer diese Artikel
von uns über ihn heute noch einmal studiert, der
ist beeindruckt, wie da immer neue Anläufe ge-
nommen wurden, Helmut Kohl zu verstehen.
Hinter alldem steckt gewiss mehr intellektuelle
Mühe, als sie sich Kohl mit seinen publizistischen
Gegnern je gemacht hat.
Allein, trotz aller Klugheit und begrifflichen
Anstrengung: Die ZEIT saß vor dem Mann wie
mit der Gabel vor der Suppe. Heute, im Nach-
hinein, ist das relativ leicht zu erkennen, damals
war es das nicht, auch der Autor dieser Zeilen hat
es nicht gesehen.
Angefangen hat das Missverhältnis im August
1976. Kohl trat erstmals als Kanzlerkandidat an,
und die bildungsbürgerliche Zeitung schickte ihm
mit Walter Kempowski einen bekannten Schrift-
steller ins Haus. Was lesen Sie, Herr Kohl? prangte
als Überschrift über dem Interview. Gemeint war
natürlich: »Lesen Sie überhaupt, Herr Kohl?!«
Tatsächlich unterzieht Kempowski den Kanz-
lerkandidaten einem rücksichtslosen Rigorosum,
er jagt ihn von einer Bildungslücke in die nächs-
te. Und, was man sich heute gar nicht mehr vor-
stellen kann: Kohl lässt sich jagen.
Sogleich ruft er: »Ich lese eine ganze Menge.«
Wieder und wieder rennt Kohl zu seinem Bücher-
»Dass es keinen Spielraum für
Steuersenkungen gibt, bedeutet, dass
irgendjemand mehr zahlen muss.«
Kurt Lauk, Präsident des CDU-Wirtschaftsrats, zur
Finanzierung der geplanten Steuerreform
»Hier kommt es darauf an,
Reife des Glaubens zu haben, nicht auf
all diese Schalmeien wie 1941
hereinfallen, so auch heute nicht.«
Gerhard Ludwig Müller, Bischof von Regensburg,
zur Berichterstattung der Medien über Fälle von
sexuellem Missbrauch in katholischen Einrichtungen
»Wir sollen unser eigenes Haus in
Ordnung bringen.«
Walter Kasper, römischer Kurienkardinal, zu den
Äußerungen des Regensburger Bischofs
»Das ist die Bürgerrechtsgesetzgebung
des 21. Jahrhunderts.«
James Clyburn, demokratischer Abgeordneter im
US-Repräsentantenhaus, über die Verabschiedung der
Gesundheitsreform in den Vereinigten Staaten
ZEITSPIEGEL
Reichweite erhöht
ZEIT ONLINE hat einen deutlichen Reich-
weitenzuwachs verzeichnet: Im vierten Quar-
tal 2009 suchten fast 1,79 Millionen Nutzer
die Internetseite auf. Der Marktstudie AGOF
internet facts zufolge erreicht ZEIT ONLINE
damit gut 4 Prozent mehr als bei der letzten
Erhebung, bei der 1,72 Millionen sogenann-
ter Unique Users gezählt wurden. Noch im
Vorjahr hatten nur knapp 1,5 Millionen Nut-
zer die Seite besucht.
HELMUT KOHL,
Kanzler
der Einheit, Ende 2009
schrank und zieht Beweismittel seiner Beflissenheit
heraus.
Doch Kempowski kennt keine Gnade: »Haben
Sie was von Grass oder Böll gelesen?« – »Kennen
Sie etwas von Goethe?«
Um dann rasselnd zu schlussfolgern: »Also ein
Bildungserlebnis alten Stils können Sie in der Li-
teratur nicht angeben.«
Endlich wirft sich Hannelore Kohl dazwischen
und ruft verzweifelt: »Nun lassen Sie ihn doch mal
nachdenken!«
Zu spät. Kohl blutet
schon aus allen Wunden,
doch Kempowski hetzt ihn
noch lustvoll durch Theater
und Malerei, um sich dann
der Kohlschen Privatsphäre
zuzuwenden: »Man sagt,
Sie hätten keinen guten Ge-
schmack – Ihre Wohnung ist aber doch ganz ge-
schmackvoll eingerichtet.«
Für einen Pfälzer.
Der Anfang bestimmt das Ganze, heißt es. Und
diesen Anfang hat Kohl der ZEIT nie verziehen.
Doch auch die ZEIT hatte einige Schwierigkeiten,
sich von dem Bild zu lösen, das man sich zuerst
von ihm machte. Dass der Mann, der nicht so gut
in Goethe war, Unmengen von Geschichtsbüchern
verschlungen hatte, was später eine geschichts-
mächtige Tatsache wurde, das spielte kaum eine
Rolle.
Als Kohl dann auch noch Kanzler wurde und
den intellektuell ungleich brillanteren und von der
ZEIT ob seiner Bildung, seiner Unabhängigkeit
und hanseatischen Gradlinigkeit hoch geschätzten
Helmut Schmidt ablöste, war der ZEIT- Reporter
ganz benommen von diesem Irrtum: »Die Wach-
ablösung vollzog sich wie hinter einer Milchglas-
scheibe.« Ein anderer
fühlte sich sogleich hinein
in den abtretenden Kanz-
ler Schmidt, der »indi-
gniert wegschaute«.
So ganz verziehen hat
man es Kohl nie, dass er
kam und blieb und blieb.
Zwei Tage nach dem
rechtlichen Vollzug der deutschen Einheit am
3. Oktober 1990 schrieb die ZEIT zur Gratulati-
on: »Er hat geerntet, was er nicht gesät hat.«
Stets wurde betont, die Einheit sei ihm zugefal-
len, der damalige US-Präsident George Bush, Mi-
chail Gorbatschow und die Demonstranten von
Leipzig hätten mindestens so viel Anteil an der
Einheit. Was stimmt. Nur, welcher andere deut-
sche Politiker hat so viel beigetragen wie Helmut
DZ
Ausgezeichnet
Die ZEIT ist beim internationalen Infografik-
Wettbewerb Malofiej mehrfach ausgezeichnet
worden. Eine Goldmedaille gab es für die
Grafik von Jan Schwochow zur Bundestags-
wahl (ZEIT Nr. 40/09). Katrin Guddat be-
kam die Silbermedaille für Zucker in Lebens-
mitteln (ZEIT Nr. 32/09). Schwochow erhielt
auch eine Bronzemedaille für das Virtuelle
Wasser (ZEIT Nr. 26/09).
Beim großen Zeitungsdesign-Wettbewerb
der Society for News Design gewannen die
ZEIT und das ZEITmagazin für ihre Gestal-
tung 16 Awards of Excellence.
Max Rauner ist zudem auf dem Extrem-
wetterkongress mit dem Medienpreis für
Meteorologie ausgezeichnet worden.
Titelgeschichte
DZ
a
www.zeit.de/audio
878606443.040.png 878606443.041.png 878606443.042.png 878606443.043.png 878606443.044.png 878606443.045.png 878606443.046.png 878606443.047.png 878606443.048.png
 
POLITIK
3
25. März 2010 DIE ZEIT Nr. 13
»Ecki, bleib bei mir!«
Nur wenige kennen Helmut Kohl so gut wie sein Fahrer, sein Büroleiter und sein Anwalt VON HANNS-BRUNO KAMMERTÖNS UND STEPHAN LEBERT
MORGENRUNDE
im Kanzleramt 1995: Links Medienberater Andreas Fritzenkötter, rechts Kohls Büroleiterin Juliane Weber
S ind es am Ende sechs Millionen Kilometer
Letzte Sitzung
angerufen und ihm erzählt, was passiert war. »Bleib
bei ihr«, hat der Kanzler gebeten. Und Ecki blieb.
Bei Hofe – oder das System Helmut Kohl. Wenn
man seine Weggefährten fragt, dann ist schnell von
seinen Qualitäten als Menschenfänger die Rede.
Ein Mann, der seine Kundschafter überall hatte, der
in seiner Partei bis hinunter in die Ortsvereine das
Gras wachsen hörte. Jemand, der Allianzen schmie-
den konnte und seine Gedanken über Freund und
Feind einem kleinen Notizbuch anvertraute, das in
seinen großen Händen fast völlig verschwand.
Theo Waigel erinnert sich gut an den Moment,
als der Kanzler am Kabinettstisch von der schweren
Erkrankung des damaligen FDP-Wirtschaftsminis-
ters Günter Rexrodt berichtete. Plötzlich habe der
Kanzler nicht mehr weitersprechen können, sagt
Waigel. »Kohl fing an zu weinen.« Der frühere säch-
sische Innenminister Heinz Eggert weiß noch gut,
wie er kurz nach seinem Rücktritt im Jahr 1995 ei-
nen Anruf bekam: Der Kanzler wollte ihn sprechen.
Eggert stand damals am Pranger, weil Sicherheits-
beamte ihm sexuelle Belästigung vorwarfen, zu Un-
recht, wie sich später herausstellte. Kohl traf Eggert
in einem Restaurant und bot ihm diverse Jobs an,
darunter auch ein hoher Diplomatenposten. Auch
wenn Eggert ablehnte, »ich habe Helmut Kohl das
nie vergessen. In schwerster Stunde hielt er zu mir.«
Seine andere Seite? Kohl konnte brutal, demütigend
und nachtragend sein. Noch immer sprechen Mit-
arbeiter diese Eigenarten eher leise an. Ob man das
Thema nicht durchnehmen könne, wenn der ewige
Kanzler nicht mehr von dieser Welt sei? Mit leichtem
Schauder erinnern sie sich an abendliche Runden im
Kanzleramt, »in denen die Personalien durchgehechelt
wurden«. Veranstaltungen
mit »sehr harten Urteilen«
und der Bereitschaft, »die
Betroffenen schnell fallen
zu lassen.«
Die dunkle Seite die-
ser Macht zeigte sich im
Jahr 2000. Die Spenden-
affäre kochte hoch, Kohl
warf Parteichef Wolfgang
Schäuble eine eigene Ver-
strickung in eine dubiose 100 000-Mark-Spende vor.
Evelyn Roll, Reporterin der Süddeutschen Zeitung,
fragte die damalige CDU-Generalsekretärin Angela
Merkel, ob Kohl Schäuble erpresst habe. Und Merkel
antwortete: »Ja, ich denke schon. Kohl hat immer ver-
sucht, alles auszureizen, was er an Erpressungspotenzial
gegen andere hat.«
Berüchtigt waren die geselligen Runden, bei
denen der Regierungschef seine rauen Späße trieb,
zum Beispiel mit Bernhard Vogel, seit früher Zeit
ein treuer Vasall. »Mache mal de Aff«, forderte ihn
Kohl auf, was bedeutete, dass Vogel vor allen auf
dem Tisch tanzen sollte, und der Parteifreund tanz-
te. Unwahrscheinlich, dass Bernhard Vogel nach
der Wende Ministerpräsident von Thüringen ge-
worden wäre ohne die Fürsprache Kohls.
Wolfgang Bergsdorf diente seinem Herrn über
mehr als zwei Jahrzehnte unter anderem als »Büroleiter
des Parteivorsitzenden«. Es gehörte zu seinem Job, die
Gemütsverfassung des Chefs rechtzeitig zu erkennen.
Und Bergsdorf, heute Chefredakteur der Monats-
schrift Die politische Meinung, wusste die Signale zu
deuten. Wenn ihn Kohl um eine Zigarette bat, was alle
drei, vier Monate vorkam, dann war ernsthaft von
»einer ganz besonderen Anspannung« des Chefs aus-
zugehen. Probater war es allerdings, auf Kohls Re-
aktion zu achten, wenn jemand bei der sogenannten
Morgenlage um 8 Uhr zum Amusement der Runde
einen Witz vortrug. Witze seien immer ein guter In-
dikator gewesen. Wie reagierte der Kanzler, wenn je-
mand glaubte, besonders witzig sein zu müssen?
Geißler? Der habe Kohl stürzen und trotzdem Ge-
neralsekretär bleiben wollen, »das geht auch nicht!«.
Jemand wie Richard von Weizsäcker habe immer
etwas Besseres sein wollen als Kohl, nun ja, meint
Waigel, »es gehöre zu einem Leben dazu, bei Gele-
genheit mit Menschen zu brechen«. Theo Waigel
sagt, dass er gelegentlich an einen Satz des früheren
CSU-Politikers Hermann Höcherl denken müsse.
Der habe Kohl so gesehen: »Seine Gegner schlagen
auf ihn ein, und sie schlagen auf ihn ein, und sie
schlagen auf ihn ein. Und was macht Kohl? Er
bleibt stehen, bleibt stehen, bleibt stehen.«
Um bis zum Schluss stehen zu bleiben, lässt sich
Kohl im November 1999 nach Essen fahren. Noch
einmal muss er eine Allianz schmieden, diesmal geht
es nicht mehr um Deutschland, sondern um ihn, er
ist in Not. Er will den Namen des Spenders nicht
nennen, er hat dem Gönner sein Ehrenwort gegeben.
Die Partei wendet sich ab.
Zuflucht suchte Kohl in der Kanzlei von Ste-
phan Holthoff-Pförtner an der Essener Zweigert-
straße. Die letzten Meter geht Kohl an diesem
grauen Novembersonntag zu Fuß, der Weg, den er
irrtümlich wählt, führt durch einen Hinterhof,
während der Anwalt vorne vor der Tür wartet. Ecki
Seeber und die Leibwächter hat er weggeschickt, sie
haben sechs Stunden frei, so lange dauert das erste
Gespräch in der Kanzlei.
Stephan Holthoff-Pförtner, 61 Jahre alt, blickt vom
Wohnraum seines kunstvoll renovierten Fachwerk-
hauses in einen Garten, in dessen Mitte eine Deutsch-
landfahne an ihrem Holzmast baumelt. Sein erster
Eindruck damals: »Unglaublich bescheiden, kein
Selbstmitleid – vor allem, Kohl war bereit, sich beraten
Die nötige Belastbarkeit brachte Bergsdorf, der
heute in Bad Godesberg wohnt, jedenfalls mit. Mit
Behagen erinnert er sich an diese Zitterpartien damals.
Mit langem Arm greift er ein dickes Buch aus dem
Regal, Weihnachten 1988 hat er es geschenkt bekom-
men, die Geschichte dazu ist schnell erzählt. Kohl habe
die Präsente vor Heiligabend selbst eingekauft. »Wo ist
Ecki?«, habe es dann geheißen. Dann fuhren die bei-
den in ihrem Mercedes, gefolgt von den Sicherheits-
beamten, vom Bonner Kanzleramt die paar Kilometer
zur Buchhandlung Bouvier. Eine gute Stunde dauerte
das Stöbern, schließlich wurde der Kanzler fündig. Der
ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert. Bergs-
dorf hält das signierte Buch fest in den Händen, es
sieht aus, als halte er einen schweren Pokal.
Wenn Wolfgang Bergsdorf die ewigen Momente
seiner Dienstzeit unter Helmut Kohl beschreibt,
dann tut er dies im Stil eines Sportlers, der an-
erkennt, dass ein anderer besser war. »Er hat unter
der Last des Amtes nicht gezuckt.« Bergsdorf sagt es
beiläufig, aber es klingt doch wie ein ziemliches
Kompliment. »Auch am Abend um elf noch im
Kanzler-Bungalow zu sitzen, ehrlich gesagt, mir war
das manchmal zu lang.« Man wusste, zwei Türen
weiter saß der Kanzler, und der hatte noch längst
nicht genug von diesem Tag. »Ist noch was?« Gerne
hätte Bergsdorf das hin und wieder mal gefragt, aber
in einer Regierungszentrale ist das die falsche Frage.
Verfügbarkeit fast rund um die Uhr. Michael
Mertes kam 1987 ins Kanzleramt. Als Redenschrei-
ber. Redenschreiber dürfen sich selbst nicht wichtig
nehmen, »sonst werden sie verrückt«, wie Mertes
sagt. Warum hat er sich das angetan – Kohl und Re-
den, ausgerechnet? Er überhört die Frage, vielleicht
gewesen, die sie gemeinsam gefahren sind,
oder waren es nur fünf, wie die Zeitungen
neuerdings schreiben? Eckhard Seeber, 71,
korrigiert die Zahl nicht mehr. Jedenfalls
war es immer die Mercedes-S-Klasse, in Schwarz oder
in Metallic-Grau, tonnenschwer wegen der Stahl-
platten in den Türen und der fingerdicken Scheiben
– und am Steuer saß ein Mann: Seeber. Daneben, auf
dem Beifahrersitz, Helmut Kohl. Sonst war niemand
im Wagen, kein Referent, kein Polizist. Der Kanzler
wollte es so. Nur sie beide.
»Ecki«, wie der Chef ihn nannte, war 46 Jahre lang
der Chauffeur. Er packte die Koffer, kaufte ein, ging
über Ostern mit auf die Fastenkur nach Hofgastein
– Wochen mit Bittersalz und Wasser. Wenn Seeber
das Gefühl hatte, dass es auch noch etwas anderes gab,
als diesen Wagen zu fahren, dann bat der Kanzler:
»Ecki, bleib bei mir!« Und Seeber blieb.
Andere Weggefährten sagten auch noch nach
Jahren »Herr Bundeskanzler«. Seeber war mit Kohl
per Du, aber nur im Auto, wenn sie unter sich wa-
ren, sagte er Helmut zu ihm. Mit der Zeit bekam der
Fahrer einen Blick für den Zustand des Chefs. Er
wusste, was ihm guttat – bei schlechter Laune war es
ein wenig Musik. Dann kramte der Chauffeur ein
Klavierkonzert von Mozart hervor oder schob Franz
Lambert, den fröhlichen Orgelspieler ein. Vor allem
war seine Aufgabe, aus der Welt jenseits der gepan-
zerten Autotür zu berichten. »Ich hatte ja mein Ohr
am Volk«, wie er einmal erzählte. Deshalb habe er,
wenn sie unterwegs waren, »dem Kanzler berichten
können, was die Menschen bedrückt«.
In seinem Mercedes führte er stets englische
Lutschbonbons mit. Wenn diese nicht ausreichten
gegen den Hunger, ließ der Chef die Kolonne schon
mal an einer Metzgerei stoppen. Man möge ihm ein
Stück heiße Fleischwurst besorgen. Und Ecki, der
ausgebildete Fallschirmjäger, der für den Notfall auch
eine Pistole trug, eilte los. Alles hätte er für diesen
Mann gemacht, und fast alles hat er auch gemacht.
Einmal, als sie vor vielen Jahren im Siebengebirge
unterwegs waren, ohne Begleitschutz, da rammte ein
Lkw das Auto, insgesamt sieben Fahrzeuge wurden in-
einandergeschoben. »Wenn man viel in der Land-
schaft unterwegs ist, darf man keine Angst haben, vor
einem Unfall oder was auch immer«, meinte Seeber
damals, als er seinen neuen Mercedes bekam. Kohl
verlor kein Wort. Wenn sie mit Tempo 180 durch
die Nacht rauschten, schneller sollte die schwere
Panzerlimousine nicht fahren, dann starrten sie
manchmal beide auf die vorbeifliegenden Schilder
an der Autobahn. Wann müssen wir ab? Kommen
wir rechtzeitig bei der Wahlveranstaltung an? Wa-
rum ist keine Polizeieskorte zur Stelle, die uns lotst?
– manchmal fragte das Seebers Beifahrer in die Stille
hinein. Und manchmal wusste es Ecki auch nicht.
In ihrem Urteil sind sich Kohls alte Weggefähr-
ten einig. Von allen besonderen Beziehungen, die
der Bundeskanzler unterhielt, sei es jene zu Bürolei-
terin Juliane Weber, »dem Julchen«, sei es jene zu
Kanzleramtschef Eduard »Ede« Ackermann gewe-
sen, die Freundschaft zu Ecki ragte heraus. »Bleib
bei mir!« Also reiste Seeber mit zu Boris Jelzin nach
Moskau, saß dort nackt in der Sauna und goss Bier
auf den Ofen. Als es am Ende darum ging, Seeber
kannte das Ritual noch nicht, mit einer Peitsche
durchblutungsfördernd Rücken, Arme und Beine
»zu klopfen«, hob er die Hand und machte mit.
Als Hannelore Kohl unter ihrer Lichtallergie zu
leiden begann, kaufte Seeber im Baumarkt schwarze
Folie, um die Fenster des Ferienhauses in St. Gilgen
abzukleben. Am Tag nach Hannelore Kohls Tod,
Seebers Frau hatte sie an einem Morgen im Juli
2001 gefunden, fegte er stumm den Gehweg vor
dem Haus. Zuvor hatte er Helmut Kohl in Berlin
Wie Konrad R. Müller seinen
Besuch beim Altkanzler erlebte
Er wartete schon in der Küche, der Alt-
bundeskanzler im Rollstuhl. Elf Jahre
hatten sie sich nicht gesehen bis zu die-
sem Tag im Januar 2010, und statt einer
Begrüßung rief Kohl, der immer noch
charmant sein kann: »Mensch, Konrad,
du wirst ja immer jünger!« Tatsächlich,
äußerlich könnten beide unterschiedli-
cher nicht sein: der massig große Pfälzer,
30 Kilo leichter mittlerweile, und der
agile Berliner mit der großen Klappe, der
ihn 1973 das erste Mal fotografierte und
später immer wieder. »Maître« nannte
Kohl ihn meist – weil er Müller einst bei
seinem Freund François Mitterrand ken-
nen- und schätzen gelernt hatte.
Gar nicht selbstverständlich, dass Mül-
ler vorgelassen wurde in Oggersheim.
Selbst engste Weggefährten warten ver-
gebens auf eine Chance. Das System der
Betreuung wünscht es so. Maike Richter-
Kohl ist die Frau an seiner Seite, die pflegt
und wacht, dirigiert und sortiert. Die ihn
streichelt und im Gespräch auch schon
mal für ihn antwortet, wenn er zu lange
nach den Worten sucht. »Wie auf Station«,
so schien es Müller. Nur als sie dem
gebrechlichen Neun-
undsiebzigjährigen
aufhelfen will, re-
belliert der deutlich
mit einer Handbe-
wegung: »Nein!«
Sonst aber war
eigentlich alles so-
fort wie immer,
wenn zwei sich tref-
fen, die viel gemein-
sam erlebt haben. Bilder wurden wach:
die Einkehr in dem Pfälzer Gasthaus, in
dem das Foto entstand, das im Wahl-
kampf 1994 Furore machte, »Politik
ohne Bart«. Die Morgenrunde im Kanz-
leramt, mit Ackermann, Teltschik und
Juliane Weber. Kohl am 14. Juli in Paris.
In San Francisco, an seiner Seite Angela
Merkel, das Mädchen.
Eine Stunde nur, länger sollte er nicht
bleiben, war ihm bedeutet worden. Müller
macht sich an die Arbeit, nimmt den Elder
Statesman bei der Lektüre der Tageszei-
tung auf. »Aber nicht den Rollstuhl«,
lautet die Bitte. Der kommt trotzdem aufs
Bild – von hinten, nur Räder, nur Beine.
»Das Amt hat sich noch in jedes Ge-
sicht geschnitten und es geformt«, be-
hauptet Konrad R. Müller, der alle acht
Bundeskanzler porträtiert hat. So leicht sei
es stets gewesen, Kohl lächerlich zu ma-
chen, sagt er. Honorig hat er ihn statt-
dessen gezeigt: auf der Stirn die Schach-
brettlandschaft tiefer Falten, buschige
Brauen darunter, dann dieser Blick, der
vernichten konnte, wenn es sein sollte. Seit
der Stress aus den Zügen gewichen ist, sei
die untere Gesichtspartie beinahe amorph
geworden. Wehmut beim Abschied? Bleibt
nicht aus, knurrt Müller. War vermutlich
ja auch das letzte Mal.
WOLFGANG
BERGSDORF,
Michael Mertes,
Eckhard Seeber,
Theo Waigel,
Maike Richter-Kohl
(von links)
findet er sie ein wenig unverschämt. Er erinnert sich
an den Auftrag des Kanzlers: »Mertes, machen Sie es
nicht zu perfekt!« Daran habe er sich gehalten und
fortan eher Stichworte angeboten, »wir ließen ihm
Gelegenheit zur Extemporation«.
Michael Mertes, 56, heute Staatssekretär in Düs-
seldorf, hat für Kohl unter anderem das Zehn-Punk-
te-Programm entworfen. »Konföderative Strukturen
beider deutscher Staaten«, diesen Begriff hat er mit
anderen eingebaut ins Manuskript. Ist er stolz auf
seinen Beitrag zur Einheit? »Ich empfand es als
Ehre«, korrigiert er. Mertes hat auch jene Rede ent-
worfen, die der Bundeskanzler im August 1990 vor
Vertriebenen in Stuttgart-Bad Cannstatt gehalten
hat. »Die Oder-Neiße-Grenze ist anzuerkennen«,
dröhnte Kohl damals über all die Pfiffe und Buhrufe
hinweg. Mertes stand nicht weit vom Rednerpult
und spürte diese unendliche Wut auf den Mann da
vorne auf der Bühne. »Diese Anfeindungen aus-
zuhalten – nein, ich hätte das nicht gekonnt.«
Warum so viele Feindschaften? Besuch bei Theo
Waigel, der ehemalige Finanzminister hat sein Büro
jetzt in der Siemens-Zentrale am Münchner Wit-
telsbacherplatz. Der Konzern hat ihn beauftragt,
sich um die Folgen des Korruptionsskandals zu
kümmern, in den Siemens verwickelt ist. Kohl habe
in der Spendenaffäre sicher schwere Fehler began-
gen, aber sich deshalb menschlich von ihm ab-
zuwenden? Zum Beispiel Norbert Blüm, der in ei-
nem Zeitungsinterview die Freundschaft aufgekün-
digt habe, »das macht man nicht!«. Und Heiner
zu lassen.« Was ist damals tatsächlich passiert? Gab es
den einen Spender wirklich, und wenn nicht, wo kam
dann das Geld her? Kennt Holthoff-Pförtner den
Namen? »Nein!«
Mittlerweile sind sie per Du. Irgendwann hat der
Exkanzler an einem Sonntagmittag mit einer Flasche
Wein vor der Tür des Fachwerkhauses gestanden und
Holthoff-Pförtner das Du befohlen, »Du sollst Hel-
mut sagen!«, der Anwalt gehorchte. Im Juli 2001 feier-
ten die beiden in Berlin einen ersten Sieg vor Gericht:
Die Stasi-Unterlagen dürfen im Verfahren gegen den
Altkanzler keine Rolle spielen. Nach Holthoff-Pfört-
ners Erinnerung habe sein Mandant noch am Abend
in Oggersheim angerufen, seiner Frau gesagt, dass fürs
Erste alles gut sei. Es war die Nacht, in der Hannelore
Kohl ihrem Leben ein Ende setzte. Warum zu diesem
Zeitpunkt? Er weiß es nicht. »Sie war sicher erleichtert,
vielleicht hatte sie das Gefühl, nun gehen zu können.«
Holthoff-Pförtner zählt zu den wenigen, die den
Altkanzler jederzeit besuchen können, für die ande-
ren hält Maike Richter-Kohl die Tür geschlossen.
Der Anwalt möchte es nicht kommentieren. Nur so
viel, wenn es die neue Ehefrau nicht gäbe, »dann
wäre Helmut Kohl nicht mehr am Leben«.
Ecki Seeber hat den schwer verletzten Chef nach
seinem Sturz im Februar 2008 noch ins Kranken-
haus gefahren, dann wurde er aufgefordert, die
Autoschlüssel abzugeben. Kontakt zu Helmut
Kohl? Nein, nicht mehr. Im Auftrag einer Oggers-
heimer Klinik fahre er jetzt Reha-Patienten, lauter
Namen, die nie in einer Zeitung standen.
AVM
878606443.050.png 878606443.051.png 878606443.052.png 878606443.053.png 878606443.054.png 878606443.055.png 878606443.056.png 878606443.057.png 878606443.058.png 878606443.059.png
POLITIK
4
25. März 2010 DIE ZEIT Nr. 13
und
Bannerträger einer neuen
türkischen Mission in
der Welt will Erdoğan sein
MODERNISIERER
»Im Finale halte ich zu Deutschland«
Ein Gespräch über türkische Integrationsprobleme, deutsche Ängste, die iranische Bombe und die neue Politik der Türkei im Nahen Osten
DIE ZEIT: Herr Ministerpräsident, in Deutschland
leben heute etwa drei Millionen Menschen türki-
scher Abstammung. Sind das in Ihren Augen
Deutsche oder Türken?
TAYYIP ERDOĞAN: Natürlich sind diejenigen mit
türkischer Staatsangehörigkeit Türken. Auch wenn
jemand seine Staatsbürgerschaft ablegt, kann er
seine ethnische Herkunft nicht ändern. Zurzeit
wird ja viel über doppelte Staatsangehörigkeiten
gesprochen. In manchen Ländern gibt es sogar die
Möglichkeit, drei Staatsangehörigkeiten zu haben.
Es gibt Menschen, die mit zwei, manchmal drei
Pässen durchs Leben gehen! Ich finde es sehr be-
dauerlich, dass Deutschland zu den Ländern in der
Europäischen Union gehört, die das nicht zulassen.
In Frankreich beispielsweise gibt es die doppelte
Staatsangehörigkeit. Ich hoffe, dass Deutschland
das auch eines Tages erlauben wird.
ZEIT: Wie finden Sie es, wenn sich türkischstämmi-
ge Fußballspieler entscheiden, in der deutschen
Nationalmannschaft zu spielen?
ERDOĞAN: Das muss jeder für sich persönlich ent-
scheiden. Wir sind stolz auf die, die für die deut-
sche Nationalmannschaft spielen. Aber wir wären
auch stolz, wenn sie für das türkische National-
team spielen würden. Wir müssen die persönliche
Entscheidung respektieren.
ZEIT: Ist es möglich, gleichzeitig ein echter Türke
und ein echter Deutscher zu sein?
ERDOĞAN: Alles ist möglich, das hängt von jedem
Einzelnen ab. Ich glaube aber, dass man trotzdem
für eines von beiden Ländern mehr Loyalität ver-
spürt. Aber dann hat keiner, auch wir nicht, das
Recht zu fragen, warum die Loyalität für das ande-
re Land vielleicht größer ist. Besonders Menschen
mit doppelter Staatsangehörigkeit haben zwei Va-
rianten von Loyalität: Hier ist das Land, in dem
ihre Wurzeln sind, in dem sie geboren wurden –
dort ist das Land, wo sie aufgewachsen sind, ihr
Leben bestreiten und ihr Geld verdienen.
ZEIT: Sehen Sie sich auch als Ministerpräsident der
Türken, die in Deutschland leben?
ERDOĞAN: Wie könnte ich auf diese Frage mit Nein
antworten? Diese Menschen sind ja türkische
Staatsangehörige. Sie haben jetzt das Wahlrecht in
der Türkei. Zum ersten Mal werden bei den Wah-
len im kommenden Jahr auch Türken, die im Aus-
land leben, in der Türkei wählen dürfen. Das hat
vor uns keine Regierung geschafft.
ZEIT: Aber so integrieren sich diese Menschen viel-
leicht weniger gut. Was behindert die Einglie-
derung der Türken in Deutschland?
ERDOĞAN: Die erste Generation der Gastarbeiter
kam vorwiegend aus Dörfern, deren Bewohner
kaum die Schule besucht hatten und ausschließ-
lich mit der Kraft ihrer Hände arbeiten konnten.
Sie hatten keine Bildung und dementsprechend
große Probleme, die deutsche Sprache zu lernen.
Die zweite Generation hat auch große Bildungs-
probleme, ist aber schon weiter als die Eltern. Ich
denke, dass von der dritten Generation an diese
Probleme überwunden sein werden. Immer wieder
sage ich den Türken in Deutschland, wie wichtig
es ist, dass sie die deutsche Sprache beherrschen,
um voranzukommen.
ZEIT: Nicht alle hören hin. Auch die dritte Genera-
tion hat große Sprachprobleme. Warum?
ERDOĞAN: Hier hat Deutschland noch nicht die
Zeichen der Zeit erkannt. Man muss zunächst die
eigene Sprache beherrschen, also Türkisch – und
das ist leider selten der Fall. In der Türkei haben
wir deutsche Gymnasien – warum sollte es keine
türkischen Gymnasien in Deutschland geben? Da-
bei gab es, als die deutschen Lycées in Istanbul ge-
gründet wurden, gerade mal eine Handvoll Deut-
sche in der Türkei. Diese Schulen waren damals
schon Ausdruck dafür, dass unser Gesicht immer
nach Westen gerichtet war.
ZEIT: Sollen die Deutschen nach Osten schauen?
ERDOĞAN: Wenn es um das Türkische an deutschen
Schulen geht, gibt es eine Ängstlichkeit in Deutsch-
land. Wir gründen gerade die Türkisch-Deutsche
Universität in Istanbul. Warum gründen wir nicht
auch eine bei Ihnen? Es gibt da ein Bedürfnis. Das
ist in meinen Augen kein Luxus, sondern ein Bei-
trag zur Integration.
ZEIT: Nächste Woche besucht Angela Merkel die
Türkei. In den vergangenen Jahren haben Sie den
italienischen oder spanischen Premier häufiger
gesehen als die Kanzlerin.
Wa r u m ?
ERDOĞAN: Ohne besonderen
Grund. Bundeskanzlerin Mer-
kel reist ja auch sehr viel. Ich
würde sie gern häufiger zu Ge-
sprächen treffen. Und ich wäre
gern häufiger Gast in dem
Land, in dem drei Millionen
meiner Landsleute leben. Lei-
der fehlt mir die Zeit, deshalb
schicke ich meine Minister
oder Abgeordnete der Partei.
Frau Merkel und ich sprechen
des Öfteren am Rande interna-
tionaler Konferenzen.
ZEIT: Wenn es um den EU-
Beitritt der Türkei geht, spricht
die Kanzlerin von einer »privi-
legierten Partnerschaft«. Was werden Sie antwor-
ten, wenn sie das bei ihrem Besuch wiederholt?
ERDOĞAN: Ich werde ihr nicht die Gelegenheit dazu
geben, denn sie weiß, was wir über eine »privile-
gierte Partnerschaft« denken. Die EU-Verträge
kennen keine »privilegierte Partnerschaft«. Für die
Türkei wäre es ein großer Fehler, darauf einzuge-
hen. Die meisten anderen EU-Länder akzeptieren
diesen Vorschlag auch nicht.
ZEIT: Liegt es an dem Vorschlag der »privilegierten
Partnerschaft«, dass Sie die Bundeskanzlerin weni-
ger oft getroffen haben?
ERDOĞAN: Nein, das ist ja kein neues Thema für
uns, und Bundeskanzlerin Merkel weiß, dass das
nicht für uns infrage kommt. Ich verstehe auch
nicht die Diskussion darüber, ob die Türkei EU-
Mitglied werden kann oder nicht. Wir führen be-
reits die Verhandlungen – und zwar auf Vollmit-
gliedschaft. Für uns gibt es dazu keine Alternative.
Wenn das Fußballspiel begonnen hat, können Sie
ja auch nicht plötzlich die Regeln für das Elfmeter-
schießen ändern. Wir spielen nach den Regeln der
EU und gehen unseren Weg weiter.
ZEIT: Aber bei den EU-Reformen kommen Sie
trotzdem nur langsam voran. Warum?
ERDOĞAN: So langsam gehen die Reformen gar
nicht. Meine Kollegen machen ihre Hausaufgaben.
Im letzten Jahr wurde ein Ministerium extra für
die Beziehungen zur EU gegründet, mit Chef-Un-
terhändler an der Spitze. Jedes Ministerium hat
eine EU-Abteilung. In jeder Stadt gibt es einen
stellvertretenden Gouverneur für EU-Fragen.
ZEIT: Das sind Behörden. Wo sind die Reformen?
ERDOĞAN: Nächste Woche wollen wir Verfassungs-
änderungen ins Parlament einbringen. Wir infor-
mieren jetzt schon die Parteien, die Medien, die
Zivilgesellschaft. Das Paket enthält die Reform der
Justizorgane, des höchsten Gerichts der Türkei
und die Möglichkeit, Militärangehörige vor Zivil-
gerichte stellen zu können, sowie ein neues Famili-
en- und Kinderrecht. Außerdem sollen Angestellte
im öffentlichen Dienst ihre eigenen Vertretungen
organisieren dürfen.
ZEIT: Sie reisen sehr viel in der islamischen Welt
und unterhalten dort beste Beziehungen. Dreht
die Türkei dem Westen den Rücken zu?
ERDOĞAN: Wir schauen in alle Richtungen. Die
Türkei normalisiert ihre Rolle in der Außenpolitik.
Mit der arabischen Welt teilen wir vieles. Franzo-
sen, Briten, Deutsche haben auch sehr gute Bezie-
hungen in Nahost. Drehen sie deshalb irgendwem
den Rücken zu? Nein. Wa-
rum sollten wir unsere Aus-
richtung verändern?
ZEIT: Gemeinsame Kabi-
nettssitzungen und Visa-
freiheit mit Syrien – das
sind sehr enge Bande.
ERDOĞAN: Wir sind nun mal
Nachbarn. Von uns aus sind
es in jedes Land des Mitt-
leren Ostens nicht mehr als
zwei Stunden Flug.
ZEIT: Stimmt, zum Beispiel
nach Teheran. Irans Atom-
programm beunruhigt viele
Staaten. Wenn die Sanktio-
nen verschärft werden, wo
wird die Türkei stehen?
ERDOĞAN: Unsere Beziehun-
gen mit Iran sind nicht neu. Wir haben seit Jahr-
hunderten eine unveränderte Grenze. Wir haben
gemeinsame Werte. Iran ist unser zweitgrößter
Gaslieferant. Wir wollen natürlich unsere Bezie-
hungen nicht durch Atomwaffen getrübt sehen
und sagen das unseren Freunden in Teheran. Aber
es ist ihr Recht, Nuklearenergie für zivile Zwecke
zu nutzen. Das gilt auch für uns. Aber noch eine
Wahrheit müssen wir aussprechen. In unserer Re-
gion gibt es ein Land mit Atomwaffen …
ZEIT: … Sie meinen Israel.
ERDOĞAN: Warum wird dieses Land mit Atomwaf-
fen nicht unter Druck gesetzt? Und was ist mit den
Ländern, die jetzt Druck ausüben auf Iran – haben
die keine Atomwaffen? Hat Deutschland welche?
ZEIT: Nein.
ERDOĞAN: Aber die fünf ständigen Mitglieder im
UN-Sicherheitsrat haben Atomwaffen. Und sie
üben Druck auf Iran aus. Wenn ihr Wort jeman-
den beeindrucken soll, dann müssen sie ihr Wort
leben. Ein türkisches Sprichwort heißt: Der Mund
wird nicht dadurch süß, dass man Honig sagt –
man muss ihn schon essen.
ZEIT: Iran hat aber den Atomwaffensperrvertrag
unterzeichnet, und es gibt starke Anzeichen dafür,
dass er dagegen verstößt.
ERDOĞAN: Aber die anderen haben auch unter-
schrieben. Und Iran sagt, er arbeitet in den Gren-
zen des Sperrvertrags. Diejenigen, die das bestrei-
ten, haben nichts Konkretes in der Hand. Sie sa-
gen, wir glauben, dass Iran Atomwaffen haben
könnte. Iran hat angeboten, das angereicherte
Uran ins Ausland zu geben, und das Ausland liefert
Brennstoff zurück. Die Verhandlungen pausieren,
aber die Gespräche laufen weiter. Ich hoffe, dass
wir dieses Problem diplomatisch lösen können. Es
gibt nur diesen Weg, alles andere wäre falsch.
ZEIT: Die Türkei hadert mit den USA und Schwe-
den, weil dort Erklärungen über die Vertreibung
und Ermordung der Armenier 1915 verabschiedet
wurden. Warum ist die Türkei darauf so fixiert?
ERDOĞAN: Diese Parlamente beschäftigen sich mit
der Sache, obwohl sie damit nichts zu tun haben.
Drittländer sollten solche Resolutionen nicht ver-
abschieden. Das ist nur politische Propaganda der
armenischen Diaspora, und die Parlamente geben
diesen persönlichen Ansichten Raum.
ZEIT: Warum öffnen Sie nicht einfach Ihre Grenze
zu Armenien, egal, was andere sagen?
ERDOĞAN: Die Grenze wurde (1993, d. Red.) ge-
schlossen, weil die Armenier unsere Brüder in
Aserbajdschan angegriffen haben und in Berg-Ka-
rabach eingedrungen sind. Die UN nennen das
eine Invasion. Wenn sich die Armenier zurückzie-
hen, werden wir die Grenze öffnen. Außerdem:
Wir haben den Luftweg nach Armenien geöffnet.
Es gibt Frachtflüge von Istanbul nach Jerewan. Als
ein weiteres Zeichen guten Willens hat unsere Re-
gierung im osttürkischen Van eine armenisch-or-
thodoxe Kirche renoviert.
ZEIT: Glauben kann verbinden oder trennen. In
Europa streitet man über Kopftücher und Burkas.
ERDOĞAN: Es ist nicht richtig, Andersgläubige in
ihrer Religionsfreiheit einzuschränken. Nirgendwo
sollten Menschen entscheiden, wie sich andere an-
zuziehen haben. Lassen wir den Menschen die
Freiheit, ihre eigene Welt zu gestalten.
ZEIT: Viele haben Angst vor einem stärkeren Ein-
fluss des Islams in Europa.
ERDOĞAN: Hier sehen wir die Islamophobie in Eu-
ropa und der Welt. Ich habe als Premierminister
Antisemitismus als Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit bezeichnet. Islamophobie in jeder Form ist
gleichfalls ein solches Verbrechen.
ZEIT: In der Türkei gibt es viele Christen, manche
sehen ihre Rechte missachtet. Zu Recht?
ERDOĞAN: Ich habe kein Problem mit anderen Kon-
fessionen in der Türkei. Ich glaube, dass viele reli-
giöse Gruppen unter dieser Regierung ihre besten
Zeiten erleben. Diese Offenheit haben sie früher
von türkischen Regierungen nicht gekannt. Ich
treffe mich regelmäßig mit Oberhäuptern verschie-
dener religiöser Gruppen. Ohne jedes Problem.
ZEIT: Was verbindet denn Muslime und Christen?
ERDOĞAN: Liebe und Frieden.
ZEIT: In Ihrer Jugend haben Sie leidenschaftlich
Fußball gespielt. Wünschen Sie sich manchmal auf
das Feld zurück?
ERDOĞAN: Jetzt nicht mehr (lacht.) Jetzt habe ich
beim Zuschauen großen Spaß. Ich war auch nicht
so stark, wie die heute spielen.
ZEIT: Die Türkei hat sich nicht für die WM in Süd-
afrika qualifiziert – zu wem halten Sie stattdessen?
ERDOĞAN: Sie erinnern sich, als die letzte EM statt-
fand, da wurden beim Spiel Türkei – Deutschland
die türkische und die deutsche Flagge zusammen-
genäht. Ich weiß nicht, ob wir den deutschen Poli-
tikern ausreichend erklären konnten, wie großartig
das war. Wenn Deutschland im Finale spielt, dann
drücke ich die Daumen für Deutschland.
DIE FRAGEN STELLTEN
Tay y i p E r d o ğ a n
Am kommenden Montag und Diens-
tag reist Bundeskanzlerin Angela
Merkel zu Gesprächen mit Minister-
präsident Erdoğan nach Ankara und
Istanbul. Ihr letzter offizieller Besuch
in der Türkei war 2006. Vor der Reise
wollte die ZEIT vom türkischen Mi-
nisterpräsidenten erfahren, wie es um
die Beziehungen zwischen Deutsch-
land und der Türkei steht.
Tayyip Erdoğan empfängt im riesi-
gen Arbeitszimmer des AKP-Vorsit-
zenden in Ankara. Das Hauptquartier
der Partei für Gerechtigkeit und Ent-
wicklung ist keine drei Jahre alt, ein
bombastischer Bau mit poliertem
Marmor, Mahagoni-Vertäfelungen und
seidenbespannten Wänden. Erdoğans
Schreibtisch ist blitzblank und auf-
geräumt. Er bittet Platz zu nehmen:
auf einem tiefvioletten, schwungvoll
gebogenen Diwan mit hellblauen,
goldbestickten Rückenkissen. Vor
dem Diwan steht ein Dekorations-
tisch mit ausgestanztem Sternenmus-
ter, ebenfalls in Gold. Hinter dem
Schreibtisch die Symbole der türki-
schen Republik, die Nationalflagge
und das Atatürk-Ölbild in gefälliger
Symbiose mit der AKP-Fahne.
Seit 2003 ist Erdoğan Regierungs-
chef. Er war bereits elf Mal in
Deutschland, kein anderes Land hat
er so oft bereist. Seine Kölner Rede
von 2008 führte zum Eklat, weil er
Assimilation ein »Verbrechen gegen
die Menschlichkeit« nannte. Zugleich
warb er für mehr Integration.
Erdoğan hat gerade eine fünfstün-
dige Sitzung des AKP-Zentralko-
mitees hinter sich – und ist erstaunlich
entspannt und gelassen, als er die
ZEIT- Redakteure Özlem Topçu und
Michael Thumann (Foto unten) emp-
fängt. Erdoğan findet Zeit für türki-
sche Sprichwörter und Eindrücke von
Deutschland. Besonders haften ge-
blieben sind ihm Bilder von der Fuß-
balleuropameisterschaft 2008, wie
die aufeinandergenähten deutschen
und türkischen Flaggen der Fans.
»In der Türkei haben
wir deutsche
Gymnasien – warum
gibt es keine türkischen
Gymnasien in
Deutschland? Beim
Türkischen an
deutschen Schulen gibt
es eine Ängstlichkeit«
ÖZLEM TOPÇU
MICHAEL THUMANN
UND
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POLITIK
5
25. März 2010 DIE ZEIT Nr. 13
Was hat er
damit zu tun?
MAIL AUS
Zwischen Hirtenbrief und
Zwischen Hirtenbrief und
alten Sünden: Papst
Umbrien
VON:
alten Sünden: Papst
Benedikt XVI. sucht nach
Benedikt XVI. sucht nach
der richtigen Haltung im
birgit.schoenfeld@zeit.de
BETREFF:
der richtigen Haltung im
Missbrauchsskandal
Mensch gegen Natur
Missbrauchsskandal
VON PATRIK SCHWARZ
Frühling in Mittelitalien, die Luft ist mild,
Obstbäume und Wiesen blühen. Trauben-
hyazinthen und Anemonen, Veilchen und
Ringelblumen: Zeit, sich in die Märzsonne zu
setzen und still die Pracht zu bestaunen, denkt
das zugewanderte Nordlicht. Allerhöchste
Zeit, hier Ordnung zu schaffen, denken die
Einheimischen und packen die Geräte aus.
Motorsense, Motorsäge, Kantenschneider,
Rasenmäher. Auf in den Kampf, Mensch ge-
gen Natur! Man hat einen Ruf zu verteidigen,
als Kulturvolk. Für die barbarische Natur-
schwärmerei von Völkern, die bis vor Kurzem
noch in Wäldern hausten, haben Italiener nur
Verachtung übrig. Sie berauschen sich nicht
an Pflanzen, die ungefragt wild in der Gegend
herumwachsen, sondern bekämpfen solche
Anarchie mit beeindruckender Gründlich-
keit. Zum Frühlingsanfang erhebt sich über
unserem umbrischen Dorf ein großes Sum-
men, Brummen und Dröhnen: alles im Ein-
satz an der Gras- und Wiesenfront.
Frühling und Herbst sind die unbeliebtes-
ten Jahreszeiten in Italien, weil die Natur
dann besonders präpotent auftritt. Unsere
Nachbarn fackeln, »wenn wir schon mal dabei
sind«, gleich die Straßenränder mit ab und
tauchen sie so in einheitliches elegantes
Schwarz. »Warum tun Sie das?«, habe ich sie
einmal gefragt. »Weil wir es ordentlich haben
wollen«, war die Antwort. Sie klang selbstver-
ständlich, ja überlegen.
VON PATRIK SCHWARZ
W as hat er damit zu tun? Von allen
fentlichkeit sollte die Gefahr für die Schönheit der
Kirche gebannt werden. Doch dann trafen im Lau-
fe von zwei Jahren mehr als 3000 Anklagen aus al-
len Teilen der Erde in Ratzingers Amt ein, während
gleichzeitig die Kirche in den USA unter der Wucht
des medialen Drucks und der Entschädigungsfor-
derungen jeden Respekt im Lande zu verlieren
drohte. In der Erfahrung dieses Doppelschocks
liegt die Haltung des späteren Papstes begründet,
bei sexuellem Missbrauch nicht länger an Geheim-
haltungspolitik zu glauben. Seitdem fordert er, wie
auch im Hirtenbrief, »sicherzustellen, dass die Vor-
gaben der Justiz voll eingehalten werden«.
Und für einen kurzen Moment schien Benedikt
XVI. der Krise vorauszueilen, statt von ihr getrie-
ben zu werden. Bei Besuchen in den USA und auf
dem Weltjugendtag in Australien traf er erstmals
Opfer und fand klare Worte des Bedauerns und
der Verurteilung der Täter.
Fragen, die sich der katholischen
Kirche im Gefolge der Miss-
brauchsskandale in Deutschland
wie in anderen Ländern stellen, ist dies die
schwierigste. Und kaum eine Frage löst in Rom
derzeit solche Empörung und Zurückweisung
aus: Was er damit zu tun hat?! Dabei hat die
Kirche selbst bestätigt, dass Benedikt XVI. in
seiner Zeit als Erzbischof von München und
Freising mit dem Fall eines Priesters befasst war,
der wiederholt sexuellen Missbrauch begangen
hat. Ausgerechnet der Theologe auf dem Papst-
stuhl, dem stets so viel an der Schönheit der
Kirche, ihrer Lehre und Liturgie lag, erlebt nun,
dass sein Pontifikat mit dem Aufkommen von
»Schmutz und Sünde« verbunden wird. Insofern
ist die Frage durchaus zwingend: Was hat der
Mann an der Spitze zu dieser größten Krise der
Kirche seit vielen Jahrzehnten beigetragen?
Für einen Mann, der vor allem für die Kon-
stanz seiner Positionen bekannt ist, hat Joseph
Ratzinger in der Missbrauchsproblematik be-
merkenswerte Veränderungen durchlaufen, auf
seinem Weg vom Ortsbischof zum Präfekten
der Glaubenskongregation und schließlich zum
Kirchenoberhaupt. In ihm spiegelt sich zu-
nächst das langsame Erwachen eines Problem-
bewusstseins der Kirche, dann aber auch die
stete Gefahr, die Dimensionen einer inzwischen
globalen Krise im Katholizismus zu verkennen
oder sogar hinter einmal gewonnene Erkennt-
nisse zurückzufallen.
»Falsch und verleumderisch« sei es, den Papst
der Vertuschung zu verdächtigen, erklärte dieser
Tage Charles Scicluna, langjähriger Mitarbeiter
Ratzingers und unter ihm Chefankläger bei der
Glaubenskongregation. Die Getreuen vermuten
eine gezielte Diskreditierung: Es gebe Medien, »die
verbissen nach Elementen gesucht haben, um den
Heiligen Vater persönlich in die Missbrauchsfragen
hineinzuziehen«, protestierte sein Sprecher Fede-
rico Lombardi, aber »für jeden objektiven Be-
obachter ist klar, dass diese Versuche gescheitert
sind«. Ganz so einfach ist es nicht.
Was auf der Sitzung des Münchner Ordina-
riatsrates am 15. Januar 1980 unter Vorsitz des
Erzbischofs Ratzinger verhandelt wurde, be-
schäftigt inzwischen Katholiken weltweit, etwa
den National Catholic Reporter, ein Leitmedium
des katholischen Amerikas. Wo es einen der-
artigen Fall gebe, schreibt kühl dessen Chefre-
porter und Autor eines wohlwollenden Buches
über Benedikt, John Allen, »da kann es gut
auch mehr solcher Fälle geben«. Die Diözese
übernahm damals mit Billigung des Bischofs
einen Kaplan aus Essen, der dort wegen sexuel-
len Missbrauchs von Jungen abgezogen worden
war. Zum Zwecke einer Therapie sollte er in
einem Pfarrhaus untergebracht werden, wurde
aber tatsächlich schon bald in verschiedenen
Pfarreien zur »Seelsorgemithilfe« eingesetzt, wie
das Ordinariat jetzt nach Prüfung der Akten
offenbart hat. 1986 wurde er wegen erneuten
Missbrauchs zu 18 Monaten Gefängnis auf
Bewährung verurteilt, aber bereits kurz darauf
wieder als Seelsorger eingesetzt. Erst im März
2010 schließlich wurde Peter H. suspendiert.
Am Anfang dieser Odyssee der Verantwor-
tungslosigkeit stand eine Entscheidung, an der
Ratzinger mitgewirkt hat. Was aber zeigt der
Fall: Sorglosigkeit? Ignoranz? Vorsatz?
Nicht weil Ratzinger sich eines besonderen
Vergehens schuldig gemacht hätte, ist der Fall
Peter H. alarmierend. Es ist gerade umgekehrt:
Er ist bedeutsam, weil der Erzbischof handelte
wie wohl die meisten anderen Würdenträger
jener Jahre. 1980 war Joseph Ratzinger Teil des
Problems, das ihn heute beschwert.
Damit zeichnet sich in Deutschland ab, was
zuvor in den USA und Irland zu beobachten
war. Hat die Aufklärung vergangener Jahrzehn-
te erst einmal begonnen, geraten auch die Bi-
schöfe und Kardinäle von heute in Bedrängnis.
Obwohl etwa der Primas von Irland, Kardinal
Sean Brady, sich schonungsloser als mancher
Kollege für die Konfrontation mit der dunklen
Vergangenheit starkmachte, hat er jetzt seine
Beteiligung an einem massiven Fall von Ver-
tuschung eingestehen müssen. Und Erzbischof
Robert Zollitsch, Vorsitzender der deutschen
Bischofskonferenz, hat als langjähriger Per-
sonaldezernent seines Freiburger Bistums mit
Vorwürfen zu kämpfen, 1991 die Versetzung
eines Pfarrers in den Ruhestand als Ausweg aus
Missbrauchsvorwürfen gebilligt zu haben. Aus
heutiger Sicht, so sagt er, hätte er »konsequen-
ter und mit größerem Nachdruck nach Zeugen
und Opfern« suchen sollen.
Die deutsche Situation ist im Vergleich zu Ir-
land und den USA in ihrer Dimension noch über-
schaubar, gäbe es da nicht die eine Besonderheit:
dass der Papst ein Teil der Geschichte ist. »Die
Frage ist jetzt«, meint der Vatikan-Beobachter
John Allen, »ob Ratzingers Vergangenheit Bene-
dikts Gegenwart überschattet?«
Diese Gegenwart ist bestimmt von einer
Wende, die dramatisch war. Noch 2001 schwor
Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation
die Bischöfe weltweit darauf ein, ihm alle Fälle
von Missbrauch zu melden – und unbedingt in
strikter Vertraulichkeit. Fern der weltlichen Jus-
tiz und den Augen einer christenkritischen Öf-
14 Punkte und ein Gebet umfasst
Benedikts Plan gegen Missbrauch
Während aber die Krise größer wurde, nicht klei-
ner, als sie Irland erfasste, dann Deutschland, in-
zwischen auch Österreich und die Niederlande, da
hielten Benedikts Reaktionen nur mühsam mit.
Sein Hirtenbrief an die irische Kirche ist Ausdruck
eines Handicaps. 14 Punkte umfasst der Brief, sau-
ber durchnummeriert, und ein persönlich verfasstes
Gebet (»Mögen unser Leid und unsere Tränen eine
reiche Ernte der Gnade tragen«). So beeindruckend
er in seiner Ausführlichkeit ist, so sehr leidet er
dennoch an zwei Schwächen der Vergangenheit.
Wieder spricht der Papst ein Problem vorrangig als
lokales an, das endgültig ein globales geworden ist.
Und gerade weil Benedikt in der Ich-Form schreibt,
fällt das fehlende Bekenntnis zur eigenen Verstri-
ckung auf. Hier spricht ein Seelsorger zu Opfern
wie Tätern, aber ohne klares Bewusstsein, selbst –
zumindest institutionell – die Täter gedeckt zu ha-
ben. In der Summe überwiegt die Sorge um die
Kirche die Anteilnahme an den Opfern: Das »Leid
und die Tränen«, von denen im Gebet die Rede ist,
sind Leid und Tränen der Kirche.
Die Folgen dieser Selbstentschuldung sind in
Deutschland bereits zu spüren. Wenn der Regens-
burger Bischof Gerhard Ludwig Müller seine Kirche
einer Verfolgung wie unter dem Nationalsozialismus
ausgesetzt sieht, steht er in der Wortwahl alleine.
Doch wie viele Pfarrer haben am vergangenen Sonn-
tag die Gelegenheit genutzt, ihre Kirche als verfolgte
Unschuld zu präsentieren? Die Versuchung war groß:
»Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten
Stein«, lautete das Bibel-Wort für den Tag.
Pek i ng
VON:
frank.sieren@zeit.de
BETREFF:
Verkohlter Koolhaas
Jedes Mal, wenn ich über den östlichen Drit-
ten Ring nach Süden in den Central Business
District fahre, komme ich an Chinas berühm-
tester Brandruine vorbei. Vor gut einem Jahr
war das nagelneue von dem niederländischen
Stararchitekten Rem Koolhaas entworfene
Hotelhochhaus bei einem Chinesisch-Neu-
jahr-Feuerwerk in Brand geraten und kom-
plett zerstört worden. Seitdem ragt das braun-
schwarz verkohlte Gebäude in den Himmel
– als Mahnmal für chinesische Schlamperei.
Denn Anfang dieser Woche gab der Staats-
anwalt das Untersuchungsergebnis bekannt:
Der Bauherr, Chinas größte Fernsehstation
CCTV, hatte es tatsächlich versäumt, die
schon kaputte Sprinkleranlage reparieren zu
lassen, obwohl er schriftlich auf den Mangel
hingewiesen worden war. Zudem hatte eines
der Bauunternehmen das Sprinklerwasser auf
dem Dach des Hochhauses für Bauarbeiten
benutzt. Dennoch hatte CCTV ein Feuer-
werk abbrennen lassen, mit Feuerwerkskör-
pern, die für die Innenstadt nicht zugelassen
waren. Inzwischen hat der Prozess gegen 44
Bauleute und Verantwortliche begonnen.
Manchen von ihnen drohen bis zu sieben
Jahre Gefängnis.
Besonders peinlich: Das Gebäude steht just
neben einem der spektakulärsten Hochhäuser
der Welt, dem ebenfalls von Koolhaas erbauten
CCTV Tower. Die Fernsehmacher können je-
doch nicht in das Gebäude einziehen, bevor der
verkohlte Nachbarklotz saniert ist.
Der Papst denkt heute
anders über
Missbrauch als einst
KARDINAL RATZINGER
Achiltibuie
VON:
reiner.luyken@zeit.de
BETREFF:
Zellteilung
Die meisten Briten feiern den Sonntag unter-
dessen zwar mit einem Familienausflug zu
Tesco, der rund um die Uhr geöffneten Su-
permarktkette. Dennoch vermehren sich
Schottlands Kirchen wie durch Zellteilung.
Sie bringen immer neue Konfessionen hervor.
In winzigen Ortschaften halten neben Katho-
liken und Anglikanern oft fünf calvinistische
Kirchen Andachten ab, die Church of Scot-
land, die Free Presbyterian Church, die Asso-
ciated Presbyterian Church, die Free Church
of Scotland und die jüngsten Spalter, die sich
in kurioser Anlehnung an eine extremistische
Splittergruppe der nordirischen IRA »Free
Church (continuity)« nennen.
Die Doktrin dient meist bloß als Vorwand
der Schismen. Die Kontinuitätler wollten
sich in Wahrheit an einem offenherzigen
Pfarrer der als »kleine Freie« verhöhnten Free
Church für ihm nachgesagte Seitensprünge
rächen.
Nun ist in ihrer Kongregation in einem
Nachbarort ein Disput ausgebrochen, bei
dem unerwiderte Liebe die Hauptrolle spielt.
Im Mittelpunkt steht ein 70-jähriger Jung-
geselle. Er lebt in einem spartanischen Stein-
haus ohne Bad und mit blankem Betonfuß-
boden. Eine gleichaltrige Konfessionsgenos-
sin hat sich für ihn entflammt und verbreitet,
sie würde ihn bald heiraten. Er will aber gar
nicht.
Darüber haben sich die fünf selbst ernann-
ten Bürgen wahrer Bibeltreue des Dorfes ent-
zweit. Doch die Zelle ist zu klein, um sich ein
weiteres Mal zu teilen.
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