Die Zeit 2010 07.pdf

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DIE ZEIT
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
Preis Deutschland 3,60 €
Nr. 7
11. Februar 2010
Funkelnder Stern
Sibel Kekilli wurde 2004 zum
Star – und zum Boulevard-
Opfer. Wie geht es ihr heute?
MAGAZIN
SEITE 24
Die teuflische Gefahr
Korrekt im Netz
Welchen Fisch kann man
noch guten Gewissens essen?
Die Infografik der Woche
WISSEN
• Wie man Missbrauch von Kindern erkennt – und was sie schützt
• Wie man Missbrauch von Kindern erkennt – und was sie schützt
• Warum Kirchenmänner zu Tätern werden
SEITE 34
• Warum Kirchenmänner zu Tätern werden
• Wann berechtigte Sorge in Hysterie umschlägt
Willkommen im Klub
• Wann berechtigte Sorge in Hysterie umschlägt
DOSSIER
SEITE 15–18
Das Armutszeugnis
Gold für Olympia
Privatschulen und Internate
machen die Bildung bunter –
für wen sind sie geeignet?
CHANCEN SPEZIAL
Hartz IV ist am Ende – und die Regierung muss von vorn anfangen.
Das Karlsruher Urteil erschüttert die Politik VON HEINRICH WEFING
Diesmal Vancouver, demnächst München und Garmisch – die Hoffnung
auf ein Sommermärchen im Schnee ist berechtigt VON CHRISTOF SIEMES
SEITE 61
Z um ersten Mal in der Geschichte der
E s gibt nicht viele Weltkonzerne, die der-
ein Gesetz, das als Jahrhundertreform begonnen
wurde und zum Synonym der Angst geworden ist
– trotz aller Erfolge, die es auch gegeben hat, etwa
bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen.
Längst fordern selbst Unionspolitiker wie Jürgen
Rüttgers, der Ministerpräsident von Nordrhein-
Westfalen, eine »Generalrevision«.
Und die Betroffenen? Sie werden – dritte
Konsequenz – am Ende wohl ein wenig mehr be-
kommen – sosehr die zuständigen Minister vor-
sorglich auch noch abwiegeln. Für alle, die par-
tout nicht wissen, wie sie Schulbücher, Nachhilfe-
unterricht oder eine neue Winterjacke für ihre
Kinder bezahlen sollen, ist die Aussicht auf ein
paar Euro zusätzlich eine wunderbare Perspektive
– wenn sie denn wirklich für die Kinder aus-
gegeben werden.
Nur für die Politik sind die Aussichten alles
andere als wunderbar. Denn das Urteil wird –
viertens – einen Dominoeffekt in Gang setzen,
dessen Auswirkungen sich noch gar nicht abse-
hen lassen. Jede Erhöhung der Regelsätze, auch
eine geringe, kostet den Bund Milliarden. Woher
das Geld kommen soll, hat das Bundesverfas-
sungsgericht nicht gesagt. Das hat es noch nie
getan. Die Richter pflegen solche profanen Fra-
gen an die Politik zu delegieren.
Jede Erhöhung der Regelsätze wird neue
Missbrauchsdebatten schüren, macht zusätzliche
Einsparungen notwendig, erschwert den Abbau
der Staatsschulden und wird Steuersenkungsplä-
ne noch abenteuerlicher erscheinen lassen als
ohnehin schon – mit allen Folgen für die Bin-
nenspannung der schwarz-gelben Koalition.
Wenn die Hartz-IV-Sätze steigen, und sei es
nur ein wenig, stellt sich zudem die Frage, für
wen es sich noch zu arbeiten lohnt. Wird auch
weiter gelten, dass der, der berufstätig ist, prinzi-
piell ein höheres Einkommen haben soll als der,
für den die Gemeinschaft aufkommt? Und wie
kann dieser Abstand hergestellt werden, wenn
die Hartz-IV-Sätze steigen? Durch ein höheres
Kindergeld? Durch Senkung der Lohnneben-
kosten? Durch Mindestlöhne? Durch staatliche
Zuschläge für Geringverdiener?
Das, nicht Steuersenkung, Schuldenabbau
und Staatsverschlankung, werden jetzt die The-
men. Statt Politik für die Mitte muss Schwarz-
Gelb nun Politik für die ganz unten machen. Es
ist, als habe das Bundesverfassungsgericht den
Koalitionsvertrag neu geschrieben. Das ohnehin
gereizte Verhältnis zwischen Karlsruhe und Ber-
lin wird das kaum entspannen.
Diese Aussicht hat die Verfassungsrichter
nicht geschreckt. Es gehört zu ihrem Selbstver-
ständnis, dass sie weiter ausgreifen, prinzipieller
werden als die Politik. Und tatsächlich steht hin-
ter den technischen Details des Hartz-IV-Urteils
eine Entscheidung, deren Bedeutung kaum zu
überschätzen ist: die Etablierung des Grund-
rechts auf eine menschenwürdige Existenz.
Zuschauer. Offenbar ist das Publikum hart im
Nehmen, nicht gewillt, sich seine Faszination am
Sport kaputt machen zu lassen. Die Ursachen für
diese Paradoxie sind ganz verschieden. Zum ei-
nen gehört die Geschichte vom gestürzten Hel-
den zum Grundrepertoire aller Sporterzählungen
seit der Antike; Heroensage und Sündenfall ge-
hören unmittelbar zusammen.
Zum anderen liefert der Sport klar über-
schaubare Ereignisse, bei denen über die Frage
nach dem Besser oder Schlechter keine Grund-
wertekommission entscheidet, sondern einfach
die Uhr. Auch befriedigt die Jagd nach Medail-
len jenen Rest an Nationalismus, der zumin-
dest hierzulande gerade noch opportun ist.
Und schließlich ist auch im 21. Jahrhundert
die alte Schillersche Idee nicht ganz totzukrie-
gen, dass der Mensch nur da ganz Mensch ist,
wo er spielt.
ZEIT ONLINE
Was ist großes Kino für
Chinesen und für Deutsche?
Ein Berlinale-Spezial
Bundesrepublik hat das Verfassungs-
gericht verbindlich definiert, wie viel
ein Mensch zum Leben braucht. Nicht
in Cent und Euro, aber im Prinzip. Und es hat
sich in seinem Urteil zu den Hartz-IV-Reformen
die Frage vorgelegt, was das heißt: zum Leben.
Genügt es, wenn niemand verhungert oder im
Winter erfriert? Reicht es, wenn die Gemein-
schaft all denen, die nicht für sich selbst sorgen
können, Nahrung, Kleidung und eine warme
Wohnung finanziert?
Nein, haben die Richter gesagt und dafür
nichts Geringeres als das kostbarste Gut aktiviert,
das die Verfassung kennt: die Menschenwürde.
Zum Minimum gehöre im Sozialstaat des Grund-
gesetzes auch die Teilhabe an Bildung, dekretiert
Karlsruhe. Der Zugang zu Kultur. Und wenigs-
tens eine Chance auf politisches Engagement.
Kurz, das Verfassungsgericht sieht auch im
Bedürftigen den Citoyen. Keinen Almosenemp-
fänger, sondern einen Teilhaber der Gemein-
schaft, die er mitgestaltet. Das ist die fraglos
wichtigste Erkenntnis des Urteils vom vergange-
nen Dienstag: Die Menschenwürde des Hartz-
IV-Empfängers ist die Würde eines Bürgers.
art krisenresistent sind wie das Interna-
tionale Olympische Komitee (IOC). In
der olympischen Periode von 2005 bis
2008 mit den Spielen in Turin und Peking mach-
te der Schweizer Verein einen Gewinn von 588
Millionen Euro. Seine Rücklagen betragen gut
300 Millionen Euro, und die Fernsehrechte für
die nun beginnenden Spiele in Vancouver und die
in London 2012 brachten dem IOC bereits 2,5
Milliarden Euro ein, obwohl noch nicht einmal
alle Verträge abgeschlossen sind. Gewaltige Zahlen
für eine Nichtregierungsorganisation, die nur alle
zwei Jahre mit Olympia im Winter und im Som-
mer einen großen Auftritt erlebt und nur ein ein-
ziges Produkt im Portfolio hat: den Sport.
Und dem geht es im Moment in etwa so gut
wie den Autos von Toyota. Der Leistungssport
steckt in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise.
Nahezu im Wochenrhythmus werden neue Do-
pingfälle bekannt; allein bei den russischen Lang-
läufern und Biathleten wurden in den vergange-
nen zwölf Monaten elf Doper überführt. Der
Finne Mika Myllylä, Olympiasieger im Langlauf
1998, gestand unlängst, Epo gespritzt zu haben,
die Standarddroge der Ausdauersportler. Aber
nicht nur im schwer zu kontrollierenden Osten
und in der fernen Vergangenheit lauern die
schmutzigen Wahrheiten. Deutschlands erfolg-
reichste Wintersportlerin, Claudia Pechstein, die
fünffache Goldmedaillengewinnerin im Eis-
schnelllauf, darf in Vancouver nicht starten, weil
sie in einem immer noch nicht abgeschlossenen
Indizienverfahren überführt wurde, ihr Blut ma-
nipuliert zu haben.
Doch nicht nur aus der Welt der Spritzen
und der Pharmakologie kommen trübe Sport-
nachrichten. Auch im Legalbetrieb hat das
Image der ewig strahlenden Athleten gewaltige
Schrammen bekommen.
Die Skispringer: Nervenbündel an der
Grenze zur Magersucht; der deutsche Vizewelt-
meister Martin Schmitt musste gerade vier
Wochen lang pausieren, weil ihm die unver-
meidlichen Hungerkuren alle Kraft zum Flie-
gen geraubt hatten. Die alpinen Skirennläufer:
Gerade bei den Frauen vergeht in diesem Win-
ter kein Wochenende, an dem nicht einer Welt-
klasseathletin das Kreuzband reißt; dem Höl-
lentempo ist das Menschenmaterial offenbar
nicht mehr gewachsen. Die Snowboarder: Der
US-Amerikaner Kevin Pearce, einer der olym-
pischen Medaillenkandidaten, stürzte im Trai-
ning aus sieben Meter Höhe ab und zog sich
schwerste Kopfverletzungen zu; der Druck, in
den immer größer werdenden Eisröhren
Kampfrichtern und Publikum immer spekta-
kulärere Sprünge zu zeigen, hat die vermeintli-
che Fun-Sportart zu einem kaum noch zu kal-
kulierenden Risiko gemacht.
Wie geht das zusammen – so viel ökonomi-
scher Erfolg bei so vielen verheerenden Nach-
richten? Das ist vor allem eine Frage an uns, die
www.zeit.de/berlinale
a
PROMINENT IGNORIERT
Nord-Süd-Gefälle
Je höher einer den Kopf trägt,
umso tiefer fällt er, wie uns einer-
seits der Blick ins Geschichtsbuch,
andererseits in die Notaufnahme
der Kliniken zeigt. Die Behörden
in Hamburg oder Berlin sind au-
ßerstande, Schnee und Eis zu räu-
men, ihre Bürger winden sich stöh-
nend am Boden. Die von Konstanz
oder München jedoch gehen stolz
ihres gestreuten Wegs. Das elende
Nord-Süd-Gefälle, jetzt kann man
es sogar hören!
Bei Winterspielen wird der moderne
Mensch wieder zum Naturwesen
Die Olympischen Spiele bieten alle zwei Jahre
den Rahmen für ein Idealbild, das die Mensch-
heit von sich gerne zeichnen möchte, mit Völker-
freundschaft, Fairness und Kreativität als zentra-
len Motiven. Bei den Winterspielen inszeniert
sich der moderne Mensch darüber hinaus mit
gewaltigem technischen Aufwand als Naturwe-
sen, das durch den Wald läuft, auf die Jagd geht,
zu fliegen versucht. Natürlich gehört zu alldem
eine gehörige Portion Selbsttäuschung; aber wer
kann, wer will ohne die leben?
Irgendwann freilich ist im Reich des schönen
Scheins Zahltag. Irgendwer muss die zweijähr-
liche Sause nämlich bezahlen, und das sind nicht
die Herren und Damen vom IOC, sondern die
Städte, die die Spiele ausrichten wollen. Schon
in Vancouver wird der Wettkampf darum, wer
den Zuschlag für das Jahr 2018 bekommt, auf
Hochtouren laufen. München geht zusammen
mit Garmisch-Partenkirchen an den Start; allein
die Bewerbung gegen die Konkurrenten aus
Frankreich (Annecy) und Südkorea (Pyeong-
chang) wird rund 30 Millionen Euro kosten, die
Ausgaben für die Veranstaltung selbst gehen in
die Milliarden.
Ist ein 16 Tage währendes Weltereignis so viel
wert? Ist es vertretbar, in Zeiten der weltweiten
Krisen so viel Geld für Olympia zu Füßen der
Zugspitze auszugeben? Ja.
Auch die Fußballweltmeisterschaft in
Deutschland sah zunächst aus wie ökonomi-
scher Irrsinn, hat sich aber in jeder Hinsicht aus-
gezahlt. Olympische Spiele können, allen Be-
denken zum Trotz, einen ähnlichen Rausch be-
wirken, in dem ein ganzes Land für ein paar Tage
ein anderes wird und sich so präsentiert, wie es
am liebsten immer wäre: fröhlich, weltoffen, be-
geisterungsfähig. Und ein bisschen verrückt.
Jeder Euro mehr für die Kinder
kostet den Bund Milliarden
Man muss sich diesen fundamentalen Gedanken
vergegenwärtigen, um die Wucht zu verstehen,
die das Karlsruher Hartz-IV-Urteil entfalten
wird. Wie ein Erdstoß hat es die politische Land-
schaft in Berlin erschüttert. Was immer zuvor die
Agenda der schwarz-gelben Koalition gewesen
sein mag: Sie gilt nicht mehr.
Die Bundesregierung wird ein neues Verfahren
für die Berechnung der Hartz-IV-Sätze erfinden
müssen. Das ist die erste, praktische Konsequenz
des Urteils und vermutlich diejenige, die am we-
nigsten Mühe bereiten wird. Mit kaum verhohle-
nem Entsetzen haben die Richter moniert, wie
schludrig der Bedarf der Bürger, die auf staatliche
Unterstützung angewiesen sind, ermittelt worden
ist, gerade der Bedarf der Kinder. Die Richter
rügen, dass sich offenbar niemand ernsthaft Ge-
danken gemacht hat, was ein Kind zum Leben
braucht. Sie rügen, dass die Kosten für Bildungs-
ausgaben, für Schulhefte oder Taschenrechner,
unberücksichtigt blieben. Sie beklagen willkürli-
che Kürzungen von Pauschalen und kritisieren
»freihändige« Schätzungen »ins Blaue hinein«.
Das sind ungewöhnlich drastische Worte aus
Karlsruhe. Jedem beteiligten Sozialtechnokraten
müssen sie die Schamröte ins Gesicht treiben. Po-
litisch bedeuten sie – zweite Konsequenz – das Ende
von Hartz IV. Mögen sich die Richter in Karlsruhe
auch ausdrücklich auf Fragen der Leistungsbemes-
sung beschränkt und nicht Hartz IV als Ganzes am
Grundgesetz geprüft haben – den Stempel »ver-
fassungswidrig« wird diese Reform nicht mehr los-
werden. Es klingt wie das finale Unwerturteil über
GRN.
Kleine Fotos: Nela König/ROBA PRESS; plainpicture;
Andy Ridder für DZ; Lukas Barth/dpa (v.o.n.u.)
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POLITIK
2
11. Februar 2010 DIE ZEIT Nr. 7
WORTE DER WOCHE
MAIL AUS
Nashville
VON:
»Kinder sind nicht 0,6 Erwachsene.«
Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter
zur Kritik des Bundesverfassungsgerichts an den
Hartz-IV-Regelsätzen für Kinder
martin.klingst@zeit.de
BETREFF: Tea Party
William Temple aus Brunswick, Georgia, er-
schien im schwarzen Dreispitz samt langer
weißer Jacke und Bündchenhose. Der Ort:
Nashville, Tennessee. Der Anlass: eine »Tea
Party«, die in Anlehnung an ein historisches
Vorbild zum Ausgangspunkt einer »zweiten
amerikanischen Revolution« werden soll.
Hatten die Revolutionäre der Boston Tea Par-
ty von 1773 einst aus Wut über die Steuer-
willkür der Briten deren Teeladungen in den
Atlantik gekippt, so würde Temple heute
ebendort am liebsten staatliche Schuldscheine
und Derivate versenken.
Ziemlich gewollt wirkt die historische An-
biederung. Der Zorn von Boston galt einst
der Fremdbestimmung durch eine Kolonial-
macht, die Wut von Nashville hingegen rich-
tet sich gegen die eigenen Gesetze und einen
demokratisch legitimierten Präsidenten. Da-
mals führten Bürgerliche und Gelehrte den
Aufstand an, Leute vom Schlage eines Barack
Obama. In Nashville aber sind es die kleinen
(weißen) Leute, die hemdsärmeligen Joe Six-
packs aus dem Mittleren Westen oder die so-
genannten Küchentisch-Mütter vom Schlage
Sarah Palins. »Duldet in eurer Bewegung kei-
nen König oder keine Königin!«, ruft die ehe-
malige republikanische Vizepräsidentschafts-
kandidatin – und lässt sich wie eine Königin
feiern. »Run, Sarah, run!«, schallt es aus Hun-
derten von Kehlen. William Temple wirft be-
geistert seinen Dreispitz in die Luft.
Rauf bold im
Armani-Anzug
»Herr Röttgen muss aus seinen
schwarz-grünen Blütenträumen
aufwachen.«
Christian Lindner, FDP-Generalsekretär, zum Vorschlag
von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU), die
Betriebsdauer von Atomkraftwerken zu beschränken
»Das ändert nichts daran, dass
Norbert Röttgen die Unterstützung der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat.«
Peter Altmaier, Fraktionsgeschäftsführer der Union,
zum selben Thema
Mehr traditionelle Werte – auch in der Schwulenehe:
Familienministerin Kristina Köhler vertritt einen
modernisierten Konservatismus VON ELISABETH NIEJAHR
»Jeden Traum von Sarah
Wagenknecht teile ich nicht.«
Andrea Ypsilanti, hessische SPD-Landtagsabgeordnete
und Mitbegründerin einer linken »Denkfabrik«, über
Gemeinsamkeiten mit der marxistischen Linkspolitikerin
»Der Bund muss als Auftraggeber alle
Bundesländer zur Vorhaltung einer
Mindestreserve an Salz drängen.«
Patrick Döring, FDP-Verkehrsexperte in NRW, über
ein vernachlässigtes Betätigungsfeld für den Staat
VOM HÖRSAAL IN DEN PLENARSAAL
und weiter ins Kabinett – wer hat das mit 32 Jahren schon geschafft?
»Wir kennen uns ja schon sehr lange,
von dieser guten Basis kann auch Ihr
offizielles Vermögen profitieren.«
Bankberater der Credit Suisse, der so um legale
Anlagen deutscher Schwarzgeldkunden warb
W ahrscheinlich hat er es nett gemeint.
aber damit, »dass in homosexuellen Partnerschaften
konservative Werte gelebt werden«.
Köhler will mehr Wachsamkeit gegenüber dem
Islamismus und erklärt das »mit der Sorge um die
liberalen Errungenschaften unserer Gesellschaft«.
Köhler will, dass die Vertreibung der Deutschen
infolge des Zweiten Weltkriegs stärker in der Schu-
le behandelt wird, aber anders als andere CDU-
Minister findet sie die Idee abwegig, eine schwarz-
rot-goldene Fahne im Büro aufzustellen.
Sie gehöre keinem Flügel der Partei an, sagt
Köhler, könne aber vielleicht die Sehnsucht der
Konservativen in der Union nach klareren Zeiten
besser nachempfinden als ihre Vorgängerin. Das
glaubt man ihr sofort. Kristina Köhler ist ein Par-
teigewächs, groß geworden in der hessischen Jun-
gen Union, zu der sie als Teenager wegen ihrer
Begeisterung für Helmut Kohl gelangte. Als Mitt-
zwanzigerin wechselte sie vom Hörsaal in den Ple-
narsaal, sie schrieb sogar ihre Dissertation über den
Gerechtigkeitsbegriff der CDU. Ihre Parteivita ist
der eine große Unterschied zu ihrer Vorgängerin
Ursula von der Leyen, der Quereinsteigerin.
Faulen schützen« müsse. Sie sagt auch: »Ich finde
die Debatte, die Roland Koch über Hartz IV be-
gonnen hat, absolut berechtigt.« Koch wollte
mehr Druck auf Arbeitslose, die keine Jobs an-
nehmen. Von der Leyen hat ihm widersprochen.
Köhler hingegen hatte sich schon 2006 mit
dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten
Jürgen Rüttgers angelegt, als der Parteifreund für
eine längere Auszahlung des Arbeitslosengeldes
für Ältere warb. Sie werde auf dem CDU-Partei-
tag gegen den Antrag stimmen, schrieb Köhler
damals in einem Zeitungsbeitrag, »weil ich über-
zeugt bin, dass die Union mit einem klaren ord-
nungspolitischen Profil mehr Erfolg hat als mit
platten Umverteilungsparolen«. Und weiter:
»Man tritt Jürgen Rüttgers sicherlich nicht zu
nahe, wenn man unterstellt, dass er sich von seiner
neuen Rolle als soziales Gewissen der CDU per-
sönliche Vorteile verspricht.« Kristina Köhler, das
lernt man bei der Lektüre alter Artikel und Reden,
geht politischen Raufereien nicht aus dem Weg.
Das also zeichnet sich nach den ersten zwei
Monaten von Köhler im Familienministerium ab:
Die Neue wird es schwerer haben als von der Ley-
en, weil es weniger zu verteilen gibt. Sie wird ihre
Ziele mit ähnlicher Härte vorantreiben, aber ihre
Partei seltener provozieren. Es wird weniger vom
Ideal der berufstätigen Mutter die Rede sein.
Köhler findet es in ihrer Staatsskepsis »anma-
ßend«, ein bestimmtes Familienideal zu propagie-
ren, und hat wenig Probleme mit dem Betreu-
ungsgeld für Eltern, die Kleinkinder zu Hause
erziehen.
Viele Berichte über »neue Väter« wird es wohl
weiterhin geben. Köhler will die Vätermonate
beim Elterngeld ausweiten, verlangt »mehr An-
erkennung für die Erziehungsleistung von Män-
nern« und bedauert, dass »mittelalte Männer« im
langen Titel ihres Ressorts nicht vorkommen.
Gut möglich, dass Kristina Köhler am liebsten
nicht nur den eigenen Namen ändern möchte,
sondern auch gleich den ihres Ministeriums.
Wahrscheinlich will der Vorsitzende
des »Verschönerungs- und Verkehrs-
vereins Biebrich am Rhein« an diesem
Sonntagmorgen seinen prominentesten Gast einfach
nur warmherzig begrüßen. »Wir freuen uns be-
sonders über den Besuch von Bundesfamilien-
ministerin Kristina Köhler«, sagt Klaus Zengerle
und macht eine Pause. Etwa hundert Gäste sitzen
zwischen Marmorsäulen im Biebricher Schloss,
applaudieren und gucken neugierig in Köhlers
Richtung. Dann kommt es: »Großartig, dass Sie
da sind«, sagt Zengerle, »so kurz vor dem schönsten
Tag Ihres Lebens.« Die neue Ministerin, sie trägt
Kostüm und Pferdeschwanz, versucht zu lächeln.
So geht das seit Wochen. Egal wo die mit 32
Jahren jüngste Ministerin in Angela Merkels Ka-
binett erscheint – wenig scheint das Publikum so
zu elektrisieren wie die Tatsache, dass sie am kom-
menden Samstag ihren Freund Ole Schröder hei-
raten wird, der als parlamentarischer Staatssekre-
tär im Innenministerium ebenfalls zum Berliner
Kabinett gehört. Auf einer Pressekonferenz von
Unicef soll Köhler erläutern, warum sie nicht ih-
ren Mädchennamen behält. Bild druckt ein Inter-
view, in dem die CDU-Ministerin gleich dreimal
nach der Trauung gefragt wird – obwohl sie keine
Antworten gibt. Ein bisschen wirkt es wie ein
Crashkurs in Gender-Politik, für die Köhler, offi-
ziell seit Ende November »Ministerin für Familie,
Frauen, Senioren und Jugend«, ja verantwortlich
ist. »Schönster Tag im Leben« – das bekäme ein
Mann wohl kaum zu hören.
Dabei ließe sich gerade in dieser Woche, in der
das Bundesverfassungsgericht über Kinderarmut
urteilte, gut beobachten, wie Kristina Köhler poli-
tisch tickt. Konservativ, eine innenpolitische Hard-
linerin, die illegal in Deutschland lebenden Aus-
ländern nur die zum Überleben notwendige medizi-
nische Behandlung gewähren will, ein »Alfred
Dregger im Armani-Anzug« – so beschreiben sie
selbst einige in ihrer Fraktion. Gleichzeitig schwärmt
sie in Interviews für die Grünen. Und tritt für die
Aufwertung der Schwulenehe ein, begründet das
»Wir müssen uns entscheiden:
Entweder für harte
Wirtschaftssanktionen, damit die
Diplomatie funktioniert, oder wir
stehen vor dem militärische Eingreifen.«
Joe Lieberman, US-Senator, über die
Handlungsoptionen des Westens gegenüber Iran
Kiew
VON:
johannes.voswinkel@zeit.de
BETREFF:
Guten Flug!
Die Luftflotte der Ukraine, wo Fluglinien schon
mal den Namen »Flugzeugreparaturwerk« tra-
gen, hat in den vergangenen Jahren eine Mo-
dernisierung erfahren. Aber manchmal erwartet
den Passagier noch eine Zeitreise in die Tiefen
sowjetischer Konstrukteurskunst. So ist auf
kürzeren Strecken die Antonow-24 anzutreffen:
Jungfernflug vor 50 Jahren, Produktionsende
in der Ukraine 1978. 130 Maschinen dieses
Typs sollen bei Unfällen zerstört worden sein,
das wäre etwa jede zehnte.
Beim Einstieg in Kiew spendet ein gnädi-
ger Flugbegleiter Trost: »Mit einer An-24
kann man doch überall landen. Machen Sie
das mal mit einer Boeing!« Über eine ver-
bogene Aluminiumleiter mit einseitigem Ge-
länder geht es an Bord. Drinnen riecht es
muffig wie in einem ausgemusterten Trup-
pentransporter. Manche Sitze haben sich
schon altersmüde in die ewige Liegesitzstel-
lung begeben. Die Anleitung für Notfälle hat
genau die richtige Dicke, um das Klappern
des Fensterrahmens gegen den Rumpf zu
dämpfen. Anfangs ist es so kalt, dass sich alle
50 Passagiere in ihren Mantel hüllen. Nach
einer Stunde bullert die Heizung. Später
kommt die Flugbegleiterin mit Plastikbe-
chern und mehreren Flaschen moldawischen
Kognaks durch die Reihen. Die Propeller
dröhnen bald viel heimeliger. Dann gibt es
eine zweite Kognak-Runde. Es wurde ein
richtig schöner Flug.
»Nun, ich hoffe es.«
Sarah Palin, Ex-Kandidatin und neue Präsidentschafts-
Hoffnung der Republikaner, auf die Frage, ob sie
besser über innere und internationale Angelegenheiten
informiert sei als vor zwei Jahren
»Was sind wir eigentlich für
Hornochsen?«
Wolfgang Niersbach, Generalsekretär des Deutschen
Fußball-Bunds, über die öffentliche Kontroverse um
die Vertragsverlängerung des DFB-Trainerteams
Sie will »die Schwachen
vor den Faulen schützen«
Der andere Unterschied zeigte sich diese Woche
in der Hartz-IV-Debatte. Von der Leyens große
Projekte, Elterngeld und Kita-Ausbau, hätte es
ohne Glauben an die Gestaltungskraft des Staates
nie gegeben. Köhler »tickt«, wie sie selbst sagt,
»bei vielen wirtschaftspolitischen Fragen eher li-
beral«. Sie schaue »eher skeptisch darauf, was und
wie viel der Staat regelt«.
Am Dienstag hatte das Bundesverfassungs-
gericht gefordert, die Unterstützung für Kinder in
Hartz-IV-Familien neu zu berechnen. Am Ende
wird der Staat mehr zahlen. Kristina Köhler hat
das nicht gefordert, im Gegenteil. Sie glaubt, dass
es problematisch wäre, wenn arbeitslose Eltern
mit ihren Kindern mehr Geld vom Staat bekämen
als Familien, bei denen die Eltern arbeiten gehen.
Sie glaubt, dass man »die Schwachen vor den
ZEITSPIEGEL
ZEIT geschichten
Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats
der Juden in Deutschland, hat am vergangenen
Wochenende erklärt, dass sie für eine zweite
Amtszeit nicht zur Verfügung stehe. Als ein
wahrscheinlicher Nachfolger gilt ihr gegen-
wärtiger Stellvertreter Dieter Graumann. Beides
hatte die ZEIT in ihrer vergangenen Ausgabe
als erstes Medium angekündigt. Weniger treff-
sicher war die Berichterstattung in einem Detail.
11 000, nicht 111 000 Mitglieder hat die Jü-
dische Gemeinde in Berlin. Wir bitten, den
Fehler zu entschuldigen.
DZ
a
www.zeit.de/audio
799018934.043.png 799018934.044.png 799018934.045.png 799018934.046.png 799018934.047.png
POLITIK
3
11. Februar 2010 DIE ZEIT Nr. 7
D ie Kanzlerin kennt das Papier. Der
ten die deutschen Atommeiler über das Jahr 2022
hinaus laufen.
Die Frage des »verlässlichen« Übergangs vom
Atom- zum Ökostrom sollen nun Gutachten klä-
ren, die Umweltminister Röttgen und Wirtschafts-
minister Rainer Brüderle (FDP) in Auftrag geben
wollen. Beiden geht es darum, wie sich verschiede-
ne Laufzeitverlängerungen mittel- und langfristig
auswirken – auf den Klimaschutz, auf die Preise
und auf die Zuverlässigkeit der Energieversorgung.
In Regierungskreisen heißt es, die Gutachter hät-
ten den Auftrag, mit Laufzeitverlängerungen von
null bis zwanzig Jahren zu arbeiten – die niedrige
Ziffer stamme aus dem Hause Röttgen, die hohe
aus dem von Brüderle.
Allerdings wäre es überraschend, sollten die
Gutachten ergeben, dass die Atomkraftwerke we-
gen des Klimaschutzes oder der Energiesicherheit
länger am Netz bleiben müssten. Das sogenannte
»Leitszenario« für den Ausbau erneuerbarer Ener-
gien, das dem Umweltministerium schon seit Au-
gust vergangenen Jahres vorliegt, geht davon aus,
dass im Jahr 2020 gut 35 Prozent des Stroms
»grün« sein können – fast so viel, wie nötig ist, um
nach Röttgens Logik die Atomkraft überflüssig zu
machen. Der Bundesverband Erneuerbare Energie
(BEE) behauptet sogar, die Branche könne bis da-
hin fast die Hälfte des gesamten deutschen Strom-
bedarfs decken. Und wenn die erneuerbaren Ener-
gien nicht nur Atomstrom ersetzen müssen, son-
dern auch den Strom aus Kohlekraftwerken, die
demnächst vom Netz gehen? Auch dann, sagt Olav
Hohmeyer vom Sachverständigenrat für Umwelt-
fragen, müssten die Atommeiler bestenfalls drei
Jahre länger laufen – und nicht Jahrzehnte, wie die
Atomindustrie hofft.
So geraten CDU und CSU nun in eine Lage,
wie sie die FDP aus dem Streit um Steuersenkun-
gen schon kennt: Man kämpft Jahrzehnte für ein
bestimmtes Ziel – und dann, wenn man es errei-
chen könnte, ist die Zeit darüber hinweggegan-
gen. Die Union habe zehn Jahre lang die Lauf-
zeitverlängerung gefordert, sagt etwa Joachim
Pfeiffer, der wirtschaftspolitische Sprecher der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion. »Jetzt müssen
wir es auch machen.«
Dumm nur, dass nun wirtschaftliche Gründe
dagegensprechen. Das Bundeskartellamt und die
Monopolkommission sehen Laufzeitverlängerun-
gen skeptisch, weil sie die marktbeherrschende
Stellung der vier Stromkonzerne festigen würden.
Die Kraftwerksbauer – viele davon mittelstän-
dische Unternehmen – würden angesichts der
Wirtschaftskrise lieber neue Stromfabriken bauen,
als zuzusehen, wie alte Kraftwerke länger am Netz
bleiben. Und auch die weltweite Renaissance der
Atomtechnik, die deutsche Kernkraftbefürworter
seit Jahren beschwören, entpuppt sich als Wunsch-
traum. Ausufernde Baukosten, kaum kalkulierbare
Strompreise: In ihrer Studie New Nuclear – The
Economics Say No warnt die ideologisch unver-
dächtige Citibank private Investoren vor dem
Abenteuer, neue Meiler zu bauen.
Bleibt die Hoffnung aufs große Geld, welche
die Bundesregierung dazu bringen könnte, die
Laufzeiten der Atomkraftwerke deutlich zu ver-
längern. Wirtschaftsminister Brüderle möchte
mindestens die Hälfte des dadurch entstehenden
Zusatzgewinns der Stromkonzerne abschöpfen –
zugunsten der Öko-Energien und der Verbraucher.
Nur wie, das hat er bisher nicht verraten. Da der
Staat die Konzerne nicht verpflichten kann, ihren
Strom günstiger zu verkaufen, dürften die Bürger
von längeren Laufzeiten kaum profitieren. Und
eine Sonderabgabe des Staates zulasten der Strom-
konzerne sei »rechtlich sehr risikoreich«, heißt es
im Papier von Oettinger und Koch. Besser sei es,
einen Vertrag zu schließen, nach der Devise: Be-
triebsjahre gegen Geld.
Am Ende könnte es darauf hinauslaufen, dass
die Konzerne einen Teil ihrer durch Laufzeitver-
längerung entstehenden Gewinne an einen Fonds
überweisen – aus dem dann die Erforschung grü-
ner Technologien gefördert wird. Es gibt dafür ein
wenig rühmliches Vorbild: Die damalige rot-grüne
Regierung vereinbarte Ende 2001 mit dem Ver-
band Forschender Arzneimittelhersteller, bestimm-
te Salben und Pillen von einer Kostensenkung aus-
zunehmen, wenn die Pharmafirmen 400 Millionen
Mark an die gesetzliche Krankenversicherung zahl-
ten. Die Opposition schäumte. »Zusage durch
Handschlag« hieß es aus den Reihen der Union.
Und: Gesetzesinhalte würden »von Zahlungen der
Gesetzesbetroffenen abhängig gemacht«.
Der Vorwurf träfe Schwarz-Gelb nun selbst.
Vizekanzler auch. Nur die Öffent-
lichkeit weiß bis heute nicht, was zwei
CDU-Ministerpräsidenten drei Tage
nach der Bundestagswahl aufschrie-
ben: dass die von Union und FDP im Wahlkampf
propagierte Laufzeitverlängerung der deutschen
Atomkraftwerke sehr schwierig werden dürfte.
25 Seiten umfasst das Strategie- und Schrittfolge-
papier Kernenergie , das Günther Oettinger und Ro-
land Koch am 30. September 2009 ans Kanzleramt
schicken. In ihrem Anschreiben (»Sehr geehrte Frau
Bundeskanzlerin, liebe Angela«) betonen die Länder-
chefs von Baden-Württemberg und Hessen, dass man
»umfangreiche rechtliche Regelungen und Verein-
barungen« brauche, um das energiepolitische Wahl-
ziel von Schwarz-Gelb zu erreichen – die Atommeiler
länger am Netz zu lassen und im Gegenzug einen
Anteil der entstehenden Extragewinne für öffentliche
Aufgaben zu nutzen.
Auf »400 bis 800 Millionen Euro pro Anlage
für jedes zusätzliche Jahr Laufzeit« beziffern Oet-
tinger und Koch die zusätzlichen Gewinne der
Kraftwerksbetreiber. »Schwer vorstellbar« sei je-
doch, die geplante Laufzeitverlängerung mit einer
»verbindlichen Verpflichtung zur Senkung der
Strompreise« zu verknüpfen. Es verwundert nicht,
dass sich Oettinger – inzwischen EU-Kommissar
in Brüssel – und Koch zu jenem Zeitpunkt im
Herbst intensiv mit der Zukunft der Kernkraft be-
schäftigen: Jene zwei Meiler, die nach der Arithme-
tik des Atomgesetzes als Nächstes stillgelegt werden
müssten, stehen in Baden-Württemberg (Neckar-
westheim I) und Hessen (Biblis A).
Verwunderlich ist nur, dass Roland Koch heute,
drei Monate nach seinem Brief an die Kanzlerin, von
möglichen Problemen bei der Laufzeitverlängerung
so recht nichts mehr wissen will.
Seit Anfang dieser Woche streitet die schwarz-
gelbe Regierungskoalition über den richtigen Umgang
mit der Atomkraft, und der Riss geht quer durch die
Fraktionen. Ausgelöst hat diesen Streit Umwelt-
minister Norbert Röttgen (CDU): Er warnte seine
Partei per Zeitungsinterview davor, »gerade die Kern-
energie zu einem Alleinstellungsmerkmal« zu machen.
Dafür steckte Röttgen im CDU-Präsidium heftige
Kritik ein, unter anderem von Roland Koch.
Tatsächlich versucht der Umweltminister seit
Wochen, die Regierungsvereinbarungen möglichst
weit auszulegen. Im Koalitionsvertrag hatten Union
und FDP vereinbart, die Kernenergie als »Brücken-
technologie« zu nutzen, »bis sie durch erneuerbare
Energien verlässlich ersetzt werden kann«. Die Re-
gierung sei bereit, die Laufzeiten deutscher Kernkraft-
werke zu verlängern. Nun sagt Röttgen als erster
Unionspolitiker überhaupt, was das sperrige Wort
von der »Brückentechnologie« wirklich bedeutet: dass
die Atomkraft in diesem Land keine große Zukunft
hat. Ausgerechnet der CDU-Umweltminister treibt
ein urgrünes Projekt voran.
Es ist ein offener Affront gegen den Koalitions-
partner FDP und gegen Teile der eigenen Partei. Und
es passt zum seltsamen Erscheinungsbild dieser zer-
strittenen Regierung, dass man jetzt auch über den
richtigen Umgang mit der Kernkraft diskutiert. Die
Bezeichnung »Schwarz-Gelb« war ursprünglich mal
ein Kampfbegriff der Grünen, der die Nähe von
Union und FDP zur Atomindustrie untermalen soll-
te. Und nun? Kann sich die Atomindustrie nicht
einmal mehr auf ihre Wunschregierung verlassen.
Dabei ist der Streit um die Laufzeitverlänge-
rung der deutschen Kernkraftwerke mehr als nur
ein schwarz-grünes Signal des Umweltministers.
Es ist die Bestätigung dessen, was Günther Oettin-
ger und Roland Koch schon im vergangenen
Herbst an Merkel und Westerwelle schrieben: Der
simple Wunsch, die Meiler länger am Netz zu las-
sen, führt zu einem heftigen Kampf um Geld,
Macht und die ideologische Deutungshoheit im
Land. Die entscheidende Runde dieses Kampfes
hat gerade begonnen.
Um das zu verstehen, muss man neun Jahre zu-
rückgehen, bis zum 11. Juni 2001. Es ist ein Montag,
an dem die Chefs der vier großen Stromkonzerne im
Kanzleramt zusammenkommen. In Deutschland
regiert damals die rot-grüne Koalition unter Gerhard
Schröder (SPD); der Abschied von der Kerntechnik,
die spätestens seit der Reaktorkatastrophe von Tscher-
nobyl zu einer hoch umstrittenen Energiequelle ge-
worden ist, gehört zu ihren wichtigsten Vorhaben.
Der Vertrag, den die Konzernchefs an diesem 11. Juni
unterschreiben, besiegelt den Einstieg in den Atom-
ausstieg. Der sogenannte »Atomkonsens« erlaubt
jedem einzelnen der damals 19 deutschen Kernkraft-
werke noch die Erzeugung einer genau festgelegten
Einfach mal abschalten
Die neue Debatte um die Kernkraft ist erst der Anfang. Schwarz-Gelb beginnt zu ahnen,
dass der Ausstieg aus dem Ausstieg schwer wird VON MARC BROST UND FRITZ VORHOLZ
Das
WUNDERLAND KALKAR,
geplant als Schneller Brüter
Reststrommenge. Alte Meiler dürfen nur wenig, neue
sehr viel mehr Strom erzeugen. Die Mengen sind so
berechnet, dass jede einzelne Anlage ihren Eigentü-
mern auf jeden Fall noch ordentliche Gewinne be-
schert, ehe sie abgeschaltet werden muss. Nur deshalb
stimmen die Konzernchefs dem Deal zu. Zehn Mo-
nate später wird der Atomkonsens zum Atomgesetz.
Dessen neues Ziel: die Nutzung der Kernenergie »ge-
ordnet zu beenden«. Ein fixes Datum gibt es dafür
nicht, aber die zugeteilten Strommengen lassen den
Schluss zu, dass der letzte Meiler ungefähr im Jahr
2022 vom Netz gehen wird.
Heute, gut elf Jahre vor dem vermeintlichen
Ende der Atomindustrie in Deutschland, sind erst
zwei der 19 Kraftwerke abgeschaltet worden. Und
zum Knackpunkt entwickelt sich die Frage, wie
schnell Sonne, Wind und Wasser die Kernenergie
»verlässlich« ersetzen können – so wie es der
schwarz-gelbe Koali tions vertrag fordert. Zurzeit
steuern sämtliche erneuerbaren Energien rund 16
Prozent zur Stromversorgung bei, auf das Konto
der Kernenergie gehen rund 23 Prozent. Um den
letzten Atommeiler im Jahr 2022 wirklich vom
Netz nehmen zu können, müssten bis dahin also
rund 40 Prozent des heimischen Stroms mittels
Sonne, Wind und Wasser erzeugt werden.
Dazu kommen aber noch die ehrgeizigen deut-
schen Klimaziele: Bis 2020 will die Regierung den
Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid
(CO 2 ) – gemessen am Vergleichsjahr 1990 – um
40 Prozent senken. Bis 2050 soll Deutschlands
Stromversorgung praktisch CO 2 -frei sein.
Auch das gelingt nur, wenn erneuerbare Ener-
gien den nicht mehr erzeugten Atomstrom emis-
sionsneutral ersetzen. Wachsen die grünen Ener-
gien in den kommenden Jahren zu langsam, müss-
Zu grün für diese Welt
Umweltminister Norbert Röttgen wird in der Union allseits sehr geschätzt. Für seine Ansichten gilt das nicht VON MATTHIAS GEIS
W er in diesen Tagen mit Norbert Röttgen
Doch die entscheidende Distanzierung – die
der Bundeskanzlerin – bleibt aus. Dafür kursiert
jetzt plötzlich die Geschichte vom »Putsch«: Rött-
gen habe nach der Bundestagswahl Volker Kauder
den Vorsitz der Unions-Fraktion abnehmen wol-
len. Wahr daran ist, dass ihn das Amt gereizt hat,
dass aber Angela Merkel kein Interesse an diesem
Wechsel hatte. Sie schätzt Röttgen und seine Fä-
higkeiten – so sehr, dass sie ihn an ihren Kabinetts-
tisch, nicht aber an die mächtige Schaltstelle an
der Fraktionsspitze berief.
Röttgen, der in einer Frustphase während der
Großen Koalition schon einmal Verbandsfunktionär
werden wollte, betrachtet sein neues Amt als Glücks-
fall. Erstmals in seiner politischen Karriere scheint
Sein Verhandlungsgeschick, seine Kommunika-
tionsfähigkeit und sein analytischer Verstand sind
unbestritten. Selbst so unterschiedliche Leute wie
Edmund Stoiber, Christian Wulff oder Roland
Koch haben in der Vergangenheit aus ihrer Wert-
schätzung für Röttgen keinen Hehl gemacht.
Dumm nur, wenn er seine Talente jetzt wieder für
eine Sache einsetzt, die gegen den Unions-Kon-
sens verstößt.
Wie das? – fragt der Minister. Seit annähernd
zwei Jahrzehnten gelte in der CDU die Atomener-
gie als Brückentechnologie. Das aber bedeute un-
weigerlich, nach einer Übergangszeit, das Ende
ihrer Nutzung in Deutschland. Natürlich durch-
schaut Röttgen den Mechanismus seines Tabu-
bruchs. Der besteht einfach darin auszusprechen,
was Teile seiner Partei lieber noch eine Zeit lang
vernebelt hätten. Es ist die Beschlusslage. Und es
ist eine Provokation.
Mit der hat Röttgen auch in der Koalition für
neue Unruhe gesorgt. Nicht nur, weil die FDP
sich nun berufen sieht, besonders laut für die
Kernenergie zu werben. Dass der Minister, der
ohnehin zu den Schwarz-Grün-Sympathisanten
im Umfeld der Kanzlerin gezählt wird, ausgerech-
net jetzt, wo in Nordrhein-Westfalen die schwarz-
gelbe Koalition auf dem Spiel steht, die Fanfare
für eine Art schwarz-grünen Atomkonsens bläst,
hat selbst manchen seiner politischen Weggefähr-
ten überrascht.
ihn eine Aufgabe ganz zu beanspruchen. Während
ihn mangelnde intellektuelle Auslastung, gepaart mit
politischem Gestaltungsdefizit, in sarkastische Stim-
mungen treibt, wirkt er im neuen Amt geradezu be-
flügelt. Dass er jetzt vor einer Herausforderung steht,
bei der sich der christliche Anspruch nach Bewahrung
der Schöpfung mit einer energiepolitischen und öko-
nomischen Transformationsstrategie verbünden
muss, versetzt den Minister nunmehr seit gut hundert
Tagen unter Spannung. Ein Röttgen in dieser Ver-
fassung gehört zum Überzeugendsten, was die deut-
sche Politik zu bieten hat.
Gerade deshalb macht er sich auch keine Illu-
sionen. Er ahnt, wie hart die Kämpfe sein werden,
die vor ihm liegen.
spricht, findet ihn bei guter Laune. Für
einen, der gerade ziemlichen Krach in der
eigenen Partei provoziert hat, wirkt er überraschend
gelassen. Vielleicht ist das Gewohnheit. Auch früher
schon wurde er für Positionen attackiert, die als
parteifremd empfunden wurden.
Mitte der neunziger Jahre wirkte ein Liberaler
wie Röttgen in der Union noch exotisch, in der
Merkel-CDU gehört er zum Mainstream. Den-
noch, die Vorstellung, dass ein CDU-Minister das
Ende der deutschen Kernenergie besiegeln will,
löst in der Partei auch heute noch Entsetzen aus.
Dass Röttgen trotzdem entspannt bleibt, hängt
auch mit seinem Selbstbewusstsein zusammen.
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POLITIK
4
11. Februar 2010 DIE ZEIT Nr. 7
D ie FDP steckt in einer Krise, die Partei-
Freiheit ausgehen als von ihrer Beschränkung
durch den Staat.
Der Liberalismus fühlte sich in Europa stets in
der Opposition gegen eine etatistisch orientierte
Mehrheit. Daraus speist sich der durchgehend re-
bellische Ton, den Margaret Thatcher auch in ih-
ren langen Jahren an der Macht nicht abzulegen
vermochte. Aus diesem Denken stammt auch Ralf
Dahrendorfs berühmtes Diktum vom Ende des
sozialdemokratischen Jahrhunderts. Dabei entging
ihm, dass die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
weltweit eher ein Siegeszug des Liberalismus war.
Die Namen Ronald Reagan, Margaret Thatcher,
Tony Blair, George W. Bush und in abgeschwäch-
ter Form Gerhard Schröder stehen schließlich für
weniger Staat, vor allem weniger Sozialstaat.
Das 21. Jahrhunderts jedoch wird wohl kaum
noch einmal dem Liberalismus gehören. Eher wird
es sich mit den Folgen dieser Siege befassen, sie
einhegen und heilen müssen.
Dass in diesen Jahren das liberale Jahrhundert
endet, muss eine FDP natürlich nicht so sehen.
Ihre geistig-politische Krise besteht vielmehr darin,
dass sie von alldem so ganz und gar unirritiert ist.
Statt sich zum Austragungsort der inneren Wider-
sprüche liberalen Denkens zu machen, behandelt
die FDP den Liberalismus wie eine stets richtige
Ideologie, die nur immer neu auf die Realität be-
zogen werden muss. Wenn nicht gar die Wirklich-
keit auf die Theorie angewendet werden muss.
Damit droht sich die FDP beständig von der
Wirklichkeit und von der Mehrheit zu entfernen.
Während viele immer öfter das – vielleicht über-
triebene – Gefühl haben, dass der Staat ihre letzte
Rettung sein könnte, gilt er der FDP nach wie vor
als die größte Gefahr. Die Steuersenkung ist das
Fanal, das immerzu an diese Differenz zwischen
den Liberalen und den 85 Prozent erinnert, die sie
nicht gewählt haben.
Doch egal, was geschieht, stets erweckt die FDP
den Eindruck, die Antwort schon zu haben, während
andere noch grübeln. Meistens lautet die Antwort:
Steuersenkung, oft: weniger Staat. In der Regierung
zeigt sich nun, dass das nicht reicht.
Warum ist die sonst meist resolute Justizministe-
rin Leutheusser-Schnarrenberger beim Thema Steu-
ersünderdatei so leise? Weil hier der Rechtsstaat
mittels kriminell erworbener Daten Straftaten auf-
klären soll, die in einem Land verübt wurden, das so
dereguliert ist, wie die FDP sich das immer wünscht.
Und weil die FDP bis vor wenigen Monaten den
Steuerstaat als einen Moloch dargestellt hat, gegen
den aufzubegehren fast schon wie ein legitimer Akt
des zivilen Ungehorsams erscheinen musste.
Warum verbindet niemand die FDP mit der
Forderung, dass der Rechtsstaat nun endlich auch
im Internet durchgesetzt werden muss?
Warum plädiert die Fraktionschefin Hombur-
ger dafür, dass manche Familien anstelle des Be-
treuungsgeldes staatliche Gutscheine bekommen,
also in extremster Weise bevormundet werden?
Hier zeigt sich eine andere Dimension der geis-
tig-politischen FDP-Krise. Da die individuelle
Freiheit heute nur noch wenige Beschränkungen
erfährt, weil sie mobil ist, weil sie im Netz weder
räumliche noch moralische Barrieren findet, weil
Institutionen wie die Kirche oder die Parteien,
aber auch die Medien an Autorität verlieren, gerät
der Grenzen sprengende Liberalismus immer öfter
in Konflikt mit dem Bürgerlichen, das ja Maß und
Mitte sucht, das Tradition liebt und Formen.
Darum müsste eine moderne liberale Partei im
Namen der Bürgerlichkeit gegen die Auswüchse
des Liberalismus vorgehen. Tut sie es nicht, dann
vagabundiert der Liberalismus und sucht sich an-
dere, scheinhafte Sicherheiten. Anti-Islamismus,
Ausländerfeindlichkeit, Israelfeindlichkeit bei-
spielsweise. Es zeugt von der zurzeit fehlenden in-
tellektuellen Tiefe der FDP, dass es sie nicht um-
treibt, wenn in den Niederlanden, in der Schweiz
und in Österreich ausgerechnet liberale Parteien
zum Sammelbecken von Ressentiments werden. In
diese Reihe gehört übrigens auch der Fall Jürgen
W. Möllemann, den die FDP als bloßen Betriebs-
unfall verbucht hat, der jedoch die Verführbarkeit
verunsicherten liberalen Denkens für rechten Po-
pulismus belegte.
Wenn der heutige Liberalismus mit schweren
inneren Widersprüchen zu kämpfen hat, die FDP
ihn aber behandelt wie eine in sich schlüssige Ideo-
logie, dann macht sich die Partei lernunfähig. Sie
versteift sich in der öffentlichen Debatte auf die
Steuersenkung um jeden Preis, weil sie meint, nur
dann glaubwürdig zu sein, wenn sie an etwas unbe-
dingt festhält, nicht wenn sie produktiv streitet
oder gar umdenkt. Auf ihre aktuelle Krise reagiert
die verzweifelt-entschlossene Führung, indem sie
verspricht, den bisherigen Kurs weiterzufahren –
nur »schneller« und »härter«. Die Liberalen sind
geistig an einem toten Punkt angekommen.
Und weil sie sich ihre Krise nicht erklären kön-
nen, bezichtigen die Liberalen die Medien, die sie
angeblich schlecht behandeln. Das würde die Libe-
ralen selbst dann nicht weiterbringen, wenn es
stimmte. Denn die Medien können sie gewiss
nicht ändern.
Offenbar ist sich die Führung nicht bewusst,
warum die FDP unter besonderer Medienbeob-
achtung steht. Dabei ist es ganz einfach: Die Libe-
ralen changieren zwischen zwei politischen Zielen:
Bürgertum für alle, heißt das eine; alles für das
Bürgertum, das andere. Ob die FDP bürgerlich ist
oder bourgeois, ob sie liberal ist oder klientelis-
tisch, das ist oft nicht mit einem Blick zu erkennen
und steht darum unter scharfer Beobachtung.
Die andere sich bürgerlich nennende Partei hat
einen anderen Weg eingeschlagen. Angesichts ei-
ner sich ständig verändernden Gesellschaft mit ei-
ner unendlichen Zahl von Mitspielern hat die
CDU damit begonnen, sich zu einem lernenden
System umzubauen, das von einigen Werten und
der Macht lose zusammengehalten wird – und
eben vom Lernen selber.
Ähnlich wie die Westerwelle-Partei machen es
die Grünen, die mit ihrem Ökologismus so umge-
hen wie die FDP mit dem Liberalismus. Allerdings
ist die Nachhaltigkeit ein historisch junger Gedan-
ke, der bislang nicht gesiegt hat und der noch nicht
von seinen inneren Widersprüchen eingeholt wer-
den konnte. Die grüne Ideologie ist sozusagen
noch nicht so weit. Darum wirkt die Partei jünger,
obwohl ihre Protagonisten es nicht mehr sind.
Die FDP steht in Zukunft, auch wenn es ihr
nicht passt, in einem politischen und geistigen
Wettbewerb mit den Grünen – um die CDU. In
ihrem jetzigen Zustand kann sie diesen Kampf
nicht gewinnen.
führung begeht viele taktische Feh-
ler. Da liegt es nahe, zu denken, dass
die Fehler die Ursache der Krise sind
und dass die Krise endet, sobald die
Fehler unterbleiben.
Abgesehen davon denken viele Menschen in
Deutschland wohl, dass eine Krise der FDP nur
das ist, was eine Karrieristen- und Klientelpartei
ohnehin verdient. Für sie ist nicht begründungs-
pflichtig, dass es den Liberalen schlecht geht, son-
dern dass es ihnen ab und an gut geht.
Hier soll etwas anderes plausibel gemacht wer-
den: dass nämlich der Liberalismus insgesamt in
einer geistig-politischen, auch in einer moralischen
Krise steckt; und dass die Art, wie die FDP ihren
Liberalismus im Moment handhabt, immer wieder
zu strategischen Fehlern führen wird.
Vertrauen in das Individuum, Skepsis gegen-
über dem Staat, Freiheit vor Sicherheit, damit ist
in immer noch gültigen Schlagworten umschrie-
ben, was liberal gesonnene Bürger seit mehr als
zwei Jahrhunderten eint. Liberalismus, das vergisst
man leicht, ist eine große Sache. Doch wer so
denkt, wer daran glaubt, den müssten die vergan-
genen zehn Jahre ungeheuer aufgewühlt haben.
• Mit dem Internet ist eine zweite, virtuelle
Welt von rasant wachsender Bedeutung entstan-
den, in der die freie Betätigung der Individuen zu
massenhafter Anarchie führt, der Rechtsstaat gilt
hier nicht wirklich, er läuft nur gelegentlich Pa-
trouille. Gleichzeitig bilden sich mit Google oder
Apple übermächtige Oligopole. Deren Fähigkeit,
die Menschen zu überwachen, zu bevormunden
und zu manipulieren, übertrifft oft schon jetzt die
entsprechenden Möglichkeiten von Staaten, jeden-
falls von demokratischen. Bürgerliche Rechte wie
das Urheberrecht werden mit Füßen getreten.
• Mit der Klimakatastrophe hat ein Thema
existenzielle Bedeutung erlangt, das sich den ge-
wöhnlichen Schemata liberalen Denkens wider-
setzt. Schließlich ist die Erwärmung der Erdatmo-
sphäre gewiss keine Nebenfolge überbordenden
staatlichen Handelns, sondern – im Gegenteil –
ungewollte Nebenwirkung individuellen Konsum-
und Wirtschaftsverhaltens. Ohne ein deutliches
Mehr an staatlichem Regeln und staatlicher Steue-
rung ist dieser Gefahr kaum beizukommen.
• Ein deregulierter, freier, globaler Finanzmarkt
hat die ganze Welt von einer Stunde auf die andere
in die Nähe des wirtschaftlichen Abgrunds geführt.
Nur mit äußerster Anstrengung ist es den Regie-
rungen der gottlob noch einigermaßen starken
Staaten gelungen, das Schlimmste zu verhindern.
Alle drei Krisen, andere wie der internationale
Terrorismus ließen sich ergänzen, haben zweierlei
gemeinsam. Zum einen liegt ihre Ursache nicht in
staatlichem Handeln, sondern in der kaum kon-
trollierten Betätigung individueller Freiheit. Zum
anderen: Nur mit einer deutlichen Ausweitung
staatlicher Macht lässt sich dem beikommen.
Damit ist der Liberalismus nicht schon wider-
legt oder aus der Zeit gefallen. Denn gerade
Staatlichkeit, die sich ausdehnen muss, wird das
oft auf die falsche Weise und an der falschen
Stelle tun. Und dass der Staat immer in der Ge-
fahr ist, überbordend und ineffizient zu werden,
lässt sich kaum bestreiten. Dennoch muss es den
Liberalismus zutiefst verstören, dass heute – je-
denfalls in den Demokratien – womöglich mehr
Gefahren von der Betätigung der individuellen
Geistig-politische Leere
Lässt die FDP den Liberalismus zur Ideologie verkommen?
VON BERND ULRICH
FDP, 1949.
Plakat aus
dem
Bundestags-
wahlkampf
Langenfeld/Meerbusch
und Verantwortung geben müsse. Doch nun muss
der Stellvertreter Westerwelles nach Berlin, zum
Krisengipfel, der keiner sein darf. Rolf Gassen schafft
es noch, Pinkwart mit beiden Händen den Arm zu
schütteln, dann ist der samt seiner unerklärlich guten
Laune weg. Keine Zeit für die vielen Fragen der Basis.
»Tja«, sagt Rolf Gassen mit feinem Lächeln, »war
wohl nicht opportun.«
Den Hoffnungsträger muss in diesen Tagen
Christian Lindner spielen, der neue Generalsekre-
tär, wie Pinkwart und Westerwelle kommt er aus
Nordrhein-Westfalen. Er soll der Partei in der Re-
gierung eine Stimme geben und ein Gesicht, mög-
lichst ein anderes als das von Parteichef Guido
Westerwelle. Den nämlich will das Publikum aus-
weislich neuester Umfragen von allen Politikern
derzeit am wenigsten gerne sehen.
Im gepflegten Hotel Landsknecht in Meerbusch
haben sich im Backsteingewölbe unter Kristalllüs-
tern die örtlichen Honoratioren versammelt. »Ka-
tastrophal«, sagt Jörg Schleifer, Vorsitzender der
FDP Meerbusch, zur Berliner Bilanz seiner Partei.
Meerbusch wird übrigens von CDU und Grünen
regiert, jener Konstellation, über die heftig dis-
kutiert wird, seit Ministerpräsident Jürgen Rütt-
gers in Richtung Grün blinkt und auch die Grünen
eine Koalition mit der CDU in NRW nicht mehr
ausschließen. »Das beste Wählerbeschaffungspro-
gramm« für die Liberalen sei das, versucht Lindner
seinen Parteifreunden Mut zu machen, weil viele
Bürgerliche zur FDP wandern würden. Doch hier
in Meerbusch hält man das für einen frommen
Wunsch. Schwarz-Grün sei in NRW in den Kom-
munen fast an der Tagesordnung. »Damit können
Sie niemanden erschrecken«, sagt Klaus Schmidt-
Menschner, Schriftführer der örtlichen FDP. Die
mangelnden Lehren aus der Finanzkrise, die »Ho-
telnummer«, das sind auch hier die Themen, die
die Mitglieder bewegen. Und die Frage, wie der
Rückenwind der Bundestagswahl so schnell abeb-
ben konnte. Manch einer hatte vor lauter Euphorie
über den Erfolg die fast 15 Prozent für die FDP so
interpretiert, als zeichne sich da tatsächlich ein
Trend ab für die »neue Balance« zwischen einem
»anmaßenden Staat« und den Bürgern, die Lind-
ner einfordert. Nur haben eben 85 Prozent der
Bürger die FDP nicht gewählt.
M eine Damen und Herren«, sagt Frank
FDP, 2010.
Plakat der
Jungen
Liberalen
in NRW
Noack, Vorsitzender des FDP-Orts-
verbands, mit gequältem Gesicht, »die
Wirtschafts- und Finanzkrise ist in
Langenfeld angekommen.« Das wäre noch zu ver-
kraften, doch angekommen ist in den vergangenen
Wochen vor allem etwas anderes: Die Umfragen
sehen die FDP bundesweit bei gerade noch 8 Pro-
zent. In Berlin tagt der Krisenrat, und in Düsseldorf,
wo am 9. Mai gewählt wird, reden alle nur noch
über Schwarz-Grün.
Die Stadthalle ist mit bunten Luftballons und
blau-gelben Fähnchen geschmückt, auf einem
Plakat der Jungliberalen lockt eine blonde Bikini-
schönheit mit Sonnenbrille: »Ich will dich.« Doch
Feierlaune kommt nicht auf beim Jahresauftakt
der Langenfelder FDP, der eilends zu einem Be-
standteil der Kampagne »100 Tage, 100 Orte.
Erste Taten, klare Worte« umetikettiert wurde.
Das Umfragefiasko, die drohende Wahlniederlage,
das ist die Quittung der 100 Tage Schwarz-Gelb
im Bund, so sehen sie das hier. »Ich bin nicht zu-
frieden«, sagt Henning Rose, FDP-Mitglied und
Rentner aus Langenfeld, kopfschüttelnd. »Wenn
Beschlüsse gefasst sind, muss man sie auch tragen.«
Das zielt auf »Professor Pinkwart«, wie die titelver-
liebte FDP ihren Landesvorsitzenden ankündigt.
Vergangene Woche hatte er empfohlen, man solle
das umstrittene Gesetz zur Senkung der Mehr-
wertsteuer für Hotels »aussetzen«. In Langenfeld
wären sie fast vom Stuhl gekippt.
Pinkwart wird an diesem Sonntag im Foyer der
Stadthalle erwartet, und Rolf Gassen will ein Wört-
chen mit ihm reden. »Ich bin so was von sauer«,
schnauft Gassen, ein eher gemütlich aussehender
Herr mit grauem Schnurrbart. 25 Jahre war er
Fraktionsvorsitzender im Rat von Langenfeld, 15
Jahre stellvertretender Bürgermeister, am Revers
seines Anzugs prangen das Bundesverdienstkreuz
und die goldene Nadel der IHK. Wenn sie in Ber-
lin von der Basis der Partei sprechen, dann meinen
sie Männer wie Gassen.
Seit 1978 macht er Politik. Flick-Affäre, Wende-
papier, Möllemann, er ist einiges von seiner Partei
gewohnt. »Wir mussten mit allen Attributen leben,
die es so für uns gab: Umfaller, Wendehälse, Klientel-
partei«, erzählt er, »und jetzt bedient die Partei alle
Vorurteile, die wir in 30 Jahren mühsam abgebaut
»Da geht mir die Luft aus!«
Die FDP-Mitglieder in Nordrhein-Westfalen sind von ihrer Partei einiges gewohnt.
So sauer wie jetzt waren sie noch nie VON TINA HILDEBRANDT
haben.« Kein Sparvorschlag werde umgesetzt, »im
Gegenteil, die satteln sogar noch drauf!« Statt wie
versprochen weniger würden mehr Staatssekretäre
eingestellt; das Entwicklungshilfeministerium, das
man im Wahlkampf abschaffen wollte, werde jetzt
von der FDP selbst geführt. Das Schlimmste aber, da
sind sich die meisten einig, ist »die Hotelnummer«.
Und dann geht am selben Tag, an dem der neue Ge-
neralsekretär Christian Lindner die positiven Effekte
der Maßnahme rühmt, der Landesvorsitzende hin
und erklärt, das Gesetz sei so schlecht, dass man es
am besten abschaffen solle. »Da geht mir echt die Luft
aus!«, sagt Gassen.
Mit Verspätung trifft endlich Andreas Pinkwart
ein, von dem die verunsicherten Liberalen Erklärun-
gen erwarten. Es ist ein weites Feld, das der Professor
in seiner Rede vermisst, von seinem Lieblingsthema
Bildung bis zu Ursachen und Folgen der Finanzkrise.
Berlin, die 100-Tage-Bilanz oder die Wahl in Nord-
rhein-Westfalen kommen nicht vor. Dafür jede
Menge Lebensweisheiten, die Pinkwart mit einem
Strahlen verkündet, als hätte er soeben das Ei des
Kolumbus gelegt: »Wenn man Schwerpunkte setzen
will, dann muss man Wichtiges von Unwichtigem
trennen.« Ganz am Schluss wird es fast doch noch
interessant, da nämlich kommt Pinkwart zu der
Frage, ob es eine stärkere Verzahnung von Freiheit
a
www.zeit.de/audio
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POLITIK
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11. Februar 2010 DIE ZEIT Nr. 7
Aus heiterem Himmel
Sie nennen es »stiefeln« und »kicken«: Immer häufiger treten und schlagen Jugendliche
ohne erkennbaren Grund zu. Woher kommt die Gewalt? VON CHRISTIAN DENSO UND HEINRICH WEFING
B erlin an einem Tag im Winter, Frei-
kommen angesichts der jugendlichen Gewalt-
exzesse zu dem Schluss: »Als Auslöser wurden
immer wieder Nichtigkeiten und Banalitäten
angeführt. Die Gewalt wird um ihrer selbst wil-
len verübt, sie scheint der ›Unterhaltung‹ und
dem ›Zeitvertreib‹ zu dienen.« Die beiden
Münchner Staatsanwältinnen Verena Dorn und
Susanne Strubl bestätigen: »Zumeist fehlt unse-
ren Täter jede Empathie für die Opfer.«
Ob ihnen klar sei, dass man durch Tritte tö-
ten könne, haben Polizisten drei 16-jährige
Schweizer gefragt, die im vergangenen Sommer
in München einen Versicherungsangestellten
überfielen und ihn derart zusammentraten, dass
sein Gesicht wohl sein Leben lang entstellt blei-
ben wird. Ja, sagten sie. Aber das sei ihnen »egal«.
Sie hätten auf Spaß gehofft, auf einen »Kick«.
Nach der Tat hockten sie sich in der Jugendher-
berge vor den Fernseher. Die Staatsanwaltschaft
sprach von einem »Amoklauf ohne Waffen«.
Als Christian Böhm Ende 1997 seine Stelle bei
der Hamburger Schulbehörde antrat, umfasste
sein Team zwei Menschen – seinen Chef und ihn.
Heute ist der Psychologe selbst Leiter der Bera-
tungsstelle Gewaltprävention und hat zehn Mit-
arbeiter. Sie bilden Lehrer fort, versuchen Jugend-
lichen das Streitschlichten beizubringen. Und sie
betreiben Krisenmanagement an Schulen, die ein
akutes Gewaltproblem haben. In Böhms Büro
hängt griffbereit eine blaue Weste mit der Auf-
schrift »Hamburger Schulkrisenteam«, im Regal
steht ein dicker Leitfaden für Notfälle von Mob-
bing bis Amoklauf. Er heißt »Krisenordner«.
Böhm kennt die Täter. Die meisten von ihnen
wüssten, wie es sich anfühlt, geschlagen und ge-
treten zu werden. Oft wechselten die Rollen von
Fall zu Fall, sagt der Psychologe: »Sie sind bei einer
Tat der Täter, bei der nächsten das Opfer. Auch
das gehört zur neuen Beliebigkeit der Gewalt.
Viele Täter kennen Gewalt zudem von zu
Hause, von klein auf. So wie Okan. Der vierte
Sohn türkischstämmiger Eltern erlebte, wie sein
Vater die Mutter und die Brüder regelmäßig
schlug. Einer der Brüder verschwand, nachdem
er wegen eines Tötungsdelikts zur Fahndung aus-
geschrieben wurde. Der zweite Bruder kam nach
Drogenexzessen zurück in die Türkei, um dort
behandelt zu werden. Die
Eltern gingen mit und lie-
ßen Okan zurück in Berlin.
Allein, als 15-Jährigen, be-
aufsichtigt nur gelegentlich
von seinem dritten Bruder.
Okan, der von der
Grundschule noch eine Re-
alschulempfehlung bekom-
men hatte, blieb sitzen,
wechselte auf die Haupt-
schule, begann zu schwän-
zen. Auch das ist typisch.
Nicht jeder Schulschwänzer
wird zum Gewalttäter. Aber
viele Gewalttäter werden
zum ersten Mal in der Schule auffällig.
Schulversagen generell ist ein regelmäßiges
Merkmal einer beginnenden kriminellen Karrie-
re: erste Auffälligkeiten schon in der Grundschu-
le, Disziplinprobleme und Konzentrationsschwie-
rigkeiten, dann häufiges Schwänzen, Schlägereien,
Verweise. Schließlich verlassen die künftigen
Täter die Schule ohne Abschluss. Was folgt, ist ein
Leben auf der Straße, mit den Kumpeln. Zu den
Eltern nach Hause, sagen Ermittler, gehe es, wenn
überhaupt, nur noch zum Essen, zum Schlafen
und manchmal, um die Kleidung zu wechseln.
Wer sich die Lebensläufe der Gewalttäter an-
schaut, kann im Nachhinein die immer wieder
gleichen Bruchstellen erkennen. »Wenn ich die
Akten der jugendlichen Täter lese, ist im Rückblick
leicht zu sehen, was schiefgegangen ist«, sagt die
Jugendrichterin Heisig. Die Laufbahnen der Schlä-
ger sind von deprimierender Gleichförmigkeit.
Heisig hat deshalb vor ein paar Jahren angefan-
gen, Kontakte zu knüpfen. Mit Eltern, Lehrern,
Polizisten, dem Jugendamt, mit Streetworkern und
Migranteninitiativen, auf dem kurzen Dienstweg
und manchmal auch ganz ohne. Wenn die jungen
Täter bei ihr im Gerichtssaal stehen, ist es nämlich
meist viel zu spät. Deshalb versucht sie, Netz-
werke zu schaffen, Frühwarnsysteme zu installie-
ren, damit die vielen Stellen, die sich um die Ju-
gendlichen kümmern, nicht isoliert voneinander
vor sich hinwurschteln. Damit sie frühzeitig auf
Schulschwänzer aufmerksam werden. Damit die
Lehrer erfahren, was ihre Schüler so treiben.
Noch steht diesem Anliegen häufig der Daten-
schutz im Weg, oft hapert es an der Zusammen-
arbeit. So dürfen Polizeibeamte eine Schule offi-
ziell nicht informieren, wenn einer ihrer Schüler
außerhalb des Geländes auffällig geworden ist. Das
ist nur dem Staatsanwalt erlaubt und auch dann
erst, wenn es zu einer Anklage kommt.
Okan, mittlerweile 21 Jahre alt, sitzt derweil
in Berlin in der Jugendstrafanstalt und versucht,
einen Hauptschulabschluss zu erlangen. Aysun,
sein Opfer, trägt eine Narbe im Gesicht. Sie be-
richtete noch lange von Albträumen und ging
nur ungern allein auf die Straße.
Die Jugendlichen, die Dominik Brunner wie
von Sinnen geschlagen und getreten haben, warten
auf ihren Prozess. Einer von ihnen hat nach der
Tat ausgesagt: Ja, sie seien auf Streit aus gewesen.
In der Anklage der Staatsanwaltschaft steht, Brun-
ner habe sich am 12. September auf dem S-Bahn-
steig gewehrt, er habe zuerst zugeschlagen – und
sei damit einem Angriff um einen Sekunden-
bruchteil zuvorgekommen. Wie sehr die beiden
Täter dann ausgerastet sind, dokumentiert ein
Anruf von Brunners Handy, der in der Polizeinot-
rufzentrale aufgezeichnet wurde, als der 50-Jährige
bereits auf dem S-Bahnsteig attackiert wurde. Von
Brunner selbst ist auf dem Mitschnitt nichts zu
hören, kein Wort, kein Hilfeschrei. Nur die Trit-
te und Schläge der beiden Täter. Dazu brüllt einer
der beiden Jugendlichen wie von Sinnen, »mo-
therfucker« und »fuck, fuck, fuck«. Der Mitschnitt
dauert kaum eine Minute. Dann herrscht Stille.
Einer ihrer »Kunden«, berichten die Münchner
Staatsanwältinnen, habe nach der Tat von Solln
bemerkt: »Bin ich froh, dass mir das nicht passiert
ist.« Und er meinte nicht, Opfer zu werden.
Die Intensität vieler Taten, das Maß an Bruta-
lität habe deutlich zugenommen, sagen die Jugend-
Staatsanwältinnen – ein Befund, den viele Fachleu-
te teilen. »Jugendliche Täter scheinen nicht selten
keine Hemmungen mehr zu haben – etwa wenn
sie einem anderen Menschen mit einem abge-
schlagenen Flaschenhals das Gesicht zerkratzen«,
bestätigt Christian Böhm, der in Hamburg die Ge-
waltpräventionsstelle der Schulbehörde leitet.
Auch der Pädagoge Alin Josef, Mitarbeiter
des Modellprojekts »Stop« für straffällig gewor-
dene Jugendliche der »Treberhilfe« in Berlin-
Neukölln, sieht die Tendenz. Er sei in Frankfurt
aufgewachsen, »im Bahnhofsviertel«, sagt er:
»Aber vor 30 Jahren, als ich ein Junge war, da hat
kein Zwölfjähriger einen anderen abgestochen.«
Statistisch lässt sich das Phänomen bislang
kaum beschreiben. Dazu fehlen schlicht die In-
strumente. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik
(PKS), die einzige bundesweit kontinuierlich
verfügbare Datenquelle, etwa erfasst nicht, ob ein
Überfall aus heiterem Himmel erfolgte oder ob
ihm ein längerer Streit vorausging. Sie sagt auch
nichts über die Intensität eines Delikts. Sie regis-
triert nur bestimmte Deliktstypen. Entsprechend
umstritten ist die Aussagekraft der Zahlen.
Ist die Jugendkriminalität schlimmer geworden?
Die bislang letzte verfügbare Statistik aus dem Jahr
2008 verzeichnet zwar weniger
tatverdächtige Kinder, Jugend-
liche und Heranwachsende als
im Jahr 2007. Dem dokumen-
tierten relativen Rückgang
steht allerdings seit geraumer
Zeit ein erheblicher Anstieg
bei den Gewaltdelikten gegen-
über. Besonders die Zahl der
schweren Körperverletzungen
ist laut Polizei-Statistik ge-
stiegen, seit 1998 um immer-
hin 54 Prozent. Auch die Zahl
der jugendlichen Intensivtäter
ist statistisch unklar. Im Jahr
2008 zählte eine Studie der
Innenministerkonferenz (IMK) 4750 Intensivtäter
in acht der 16 Bundesländer; die anderen hatten
keine Zahlen gemeldet. Es gibt nicht einmal eine
bundeseinheitliche Definition des Begriffs. Nach
Schätzungen sind Intensivtäter, vielleicht ein Fünf-
zigstel aller Tatverdächtigen unter 21 Jahren, für ein
Drittel aller Jugendstraftaten verantwortlich.
Dass es mehr geworden sind, steht für die
Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig, am
Amtsgericht für Jugendstrafsachen in Neukölln
zuständig, außer Frage. »Vor ein paar Jahren ha-
ben wir noch gesagt: Wir verhängen möglichst
keine Haftstrafen, das wächst sich aus, die werden
ruhiger, wenn sie älter werden«, erzählt sie. »Die
richtig harten Burschen, das waren zwei, drei
Fälle, die konnte man so mit durchschleppen.
Heute geht das nicht mehr. Es sind zu viele.«
Jedes Mal, wenn die Gewalt explodiert ist, wie
bei der Attacke in der Münchner U-Bahn, wie im
Fall Dominik Brunner, fragt sich die Nation fas-
sungslos: Woher kommt diese Gewalt? Was treibt
die jungen Schläger an? Ein Überschuss an Testos-
teron? Ein genetischer Code? Die Hoffnungslosig-
keit ihres Lebens in der Unterschicht? Integrations-
probleme – überproportional viele der Gewalttäter
haben einen Migrationshintergrund, bei den In-
tensivtätern sind es fast 70 Prozent? Falscher Me-
dienkonsum? Alkoholismus, Drogenmissbrauch?
Alles mögliche Antworten. Aber vermögen sie
zu erklären, woher die Enthemmung kommt?
Die Jugendlichen, mit denen sie zu tun habe,
hätten eine »extrem niedrige Frustrationsschwel-
le« und seien »hochgradig aggressiv«, sagt Kirsten
Heisig. So wie Okan, der in der Neuköllner Ju-
liusstraße über Aysun hergefallen ist. Okans älte-
rer Bruder hatte sich ein paar Minuten vorher
geweigert, dem 19-Jährigen seine ec-Karte aus-
zuleihen. Das genügte. Aysun war nichts weiter
als ein lebender Blitzableiter.
Stellen Ermittler die Täter zur Rede, können
die Jugendlichen meist nicht sagen, warum sie
einen anderen Menschen misshandelt haben.
Verantwortung für das eigene Tun übernimmt
so gut wie keiner. Ein Geständnis gerät oft zum
»Ja, aber«: Das Opfer habe doch provoziert –
oder im falschen Moment geguckt.
Bei Gewalttaten dieser Art wollen die Täter
meist nichts erbeuten, kein Geld rauben, kein
Handy »abziehen«. Sie planen die Taten nicht, es
passiert einfach. Das deckt sich mit den Erkennt-
nissen der IMK-Studie von 2008. Die Verfasser
tagmittag, kurz nach eins. Die
sechzehn Jahre alte Aysun* ist auf
dem Heimweg von der Schule. Sie
wird später der Polizei erzählen, der
junge Mann sei ihr gleich auf-
gefallen. Er habe so wütend aus-
gesehen. Vielleicht hat sie auch beobachtet, wie der
Bursche namens Okan* weiter oben in der Neu-
köllner Juliusstraße herumpöbelt, ein paar Einkaufs-
wagen umwirft und eine Passantin anrempelt. Okans
Wut sucht ein Objekt. Irgendeins.
Aysun ahnt das. Die junge Deutschtürkin senkt
den Kopf, als der schmächtige Neunzehnjährige ihr
entgegenkommt. Sie drückt sich näher an die Haus-
wand, schaut ihn nicht an, sagt kein Wort. Bloß jetzt
keinen Augenkontakt. Bloß keine Provokation. Am
liebsten würde Aysun sich unsichtbar machen. Aber
sie hat kein Glück. Als sie schon fast an ihm vorbei
ist, dreht Okan sich plötzlich um, packt ihre Haare,
reißt ihren Kopf nach hinten. Sie schreit: »Loslassen,
loslassen«, aber er lässt nicht los. Er greift in die
Tasche seiner weißen Jacke, holt ein Klappmesser
hervor, lässt es aufspringen und zieht dem Mädchen
die vier Zentimeter lange Klinge quer durch das
Gesicht, von der einen Wange bis zur anderen.
Aysun brüllt auf, ihre Lippe ist aufgeschlitzt, über-
all ist Blut. Die Ärzte im Krankenhaus, in das Aysun
kurz darauf eingeliefert wird, notieren eine klaffen-
de Fleischwunde an der Oberlippe, ein Hämatom
am Auge, eine Gehirnerschütterung, einen Schock.
Alltag auf deutschen Straßen? Gottlob nicht –
nicht einmal im notorischen Berliner Bezirk Neu-
kölln. Aber die Tat ist auch kein isolierter Ausrei-
ßer. Das völlig Anlasslose von Okans Überfall, das
Blitzartige, Unprovozierte seiner Messerattacke ist
vielmehr typisch für eine Tendenz, die Ermittlern,
Staatsanwälten und Jugendrichtern zunehmend
Sorgen macht, überall in deutschen Großstädten:
Immer häufiger schlagen Jugendliche ohne erkenn-
baren Grund zu, prügeln los, stechen zu, treten
nach, selbst wenn ihre Opfer längst am Boden lie-
gen. Aus scheinbar heiterem Himmel. Einfach so.
Viele der Täter wissen Minuten vor der Tat selbst
noch nicht, was sie gleich tun werden. »Es braucht
keinen Anlass mehr«, sagt die Münchner Staats-
anwältin Verena Dorn: »Jemand wird Opfer, weil
er gerade zufällig vorbeikommt.« So wie Aysun.
Meist nimmt die Öffentlichkeit solche Taten
kaum wahr. Meist bleiben sie auf bestimmte
Quartiere, auf bestimmte Gruppen beschränkt.
Messerstechereien, Straßenkriminalität, bewaff-
nete Überfälle sind, grob gesagt, Unterschich-
tenphänomene, begangen von jungen Männern in
den Problemvierteln großer Städte. Wer dort nie
zu tun hat, bekommt wenig davon mit. Okans Tat
etwa war Berliner Zeitungen nur einen kleinen Be-
richt wert, als der Deutschtürke, der schon einige
Vorstrafen hatte, wegen gefährlicher Körperverlet-
zung, Nötigung und Beleidigung zu dreieinhalb
Jahren Jugendstrafe verurteilt wurde.
Nur manchmal, wenn eine Videokamera einen
besonders brutalen Überfall aufnimmt, wie bei den
Münchner U-Bahn-Schlägern kurz vor Weihnach-
ten 2007, oder wenn ein Opfer tot liegen bleibt, wie
im Fall von Dominik Brunner auf dem S-Bahnhof
in München-Solln im vergangenen September,
reagiert das Land entsetzt und fassungslos. Wie kann
so etwas sein? Woher kommt diese Brutalität, diese
Hemmungslosigkeit, dieses blindwütige Zuschla-
gen? Nichts verstört, nichts verängstigt derart wie
Gewalt, die sich nicht erklären lässt.
Geständnisse
geraten oft zum
»Ja, aber«. Das Opfer
habe doch provoziert –
oder im falschen
Moment geguckt. Kaum
ein Täter übernimmt
Verantwortung
Wie von Sinnen brüllte einer
der Täter: »Fuck, fuck, fuck«
Verena Dorn hat damit fast jeden Tag zu tun. Die
30-Jährige ist eine von zwei Ermittlerinnen, die
sich bei der Staatsanwaltschaft München I um jun-
ge Intensivtäter kümmern. Mit acht Polizisten ar-
beiten Dorn und ihre Kollegin Susanne Strubl für
das »Projekt personenorientierte Ermittlungen
und Recherchen«, kurz »Proper«. Sie kümmern
sich um Jugendliche und junge Erwachsene zwi-
schen 14 und 21 Jahren. Intensivtäter, das sind
nach Münchner Definition Täter, die innerhalb
von sechs Monaten mindestens fünf Delikte be-
gangen haben, darunter eine Gewalttat. Derzeit
sind in der Proper-Datei 94 junge Männer und
vier Frauen registriert. Die Täter von München-
Solln gehörten vor dem Tod von Dominik Brun-
ner nicht dazu. Sie waren noch zu kleine Fische.
Dorn und Strubl kennen fast jeden »ihrer« In-
tensivtäter persönlich. Aus Vernehmungen, aus
Durchsuchungen, aus Gerichtsverhandlungen. Sie
sind nah dran an den jungen Leuten. Vielleicht
auch deshalb benutzen sie bisweilen dieselben
Wörter: »stiefeln« oder »kicken« etwa – so nennen
Jugendliche das Eintreten auf Wehrlose.
»Bei vielen Tätern habe ich nicht das Gefühl, sie
hätten von allein aufgehört«, sagt Staatsanwältin
Strubl, 33. Ihre Kollegin bekam vor Kurzem den Fall
einer Clique Jugendlicher auf den Tisch, die sich zum
Feiern abends draußen getroffen hatte. Als der Wod-
ka leer war, kam ein Jogger vorbei. Ein Jugendlicher
hielt ihn an, es wurden ein paar Worte gewechselt,
dann wurde das Opfer zu Boden geprügelt. Obwohl
der Mann sich nicht mehr regte, traten die Jugend-
lichen weiter auf ihn ein. »Ich frage mich, was passiert
wäre, wenn nicht ein Autofahrer, der vorbeikam, so
eindringlich gehupt hätte«, sagt Verena Dorn.
Im Fall von Dominik Brunner haben Gerichts-
mediziner 22 schwerste Verletzungen aufgrund
»stumpfer Gewalt« an seinem Leichnam entdeckt.
TATORT U-BAHN.
Eine Videokamera
zeichnete Ende 2007 auf, wie zwei
junge Männer in München einen
Rentner lebensgefährlich verletzten
* Namen geändert
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Zgłoś jeśli naruszono regulamin