Williams, Tad - Otherland 01 - Stadt Der Goldenen Schatten.pdf

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Tad Williams
Otherland
Stadt der goldenen Schatten
Dieses Buch ist meinem Vater Joseph Hill Evans gewidmet, von Herzen. Eigentlich liest Vater keine
Romane, deshalb sollte ihm jemand Bescheid sagen, sonst wird er nie davon erfahren.
Vorbemerkung des Autors
Die Ureinwohner Südafrikas sind unter vielen Namen bekannt - als San, Basarwa, Remote Area Dwellers
(im derzeitigen südafrikanischen Behördenjargon) und im allgemeineren Gebrauch als Buschleute oder
Buschmänner.
Ich gebe gern zu, daß ich mir bei meiner Darstellung des Lebens und der Anschauungen der Buschleute in
diesem Roman große Freiheiten erlaubt habe. Die Buschleute haben keine monolithische Überlieferung -
jede Gegend und manchmal jede Großfamilie kann ihre eigenen fesselnden Mythen haben - und keine
einheitliche Kultur. Ich habe Buschmanngedanken, -lieder und -geschienten vereinfacht und manchmal
abgewandelt. Die Literatur stellt ihre eigenen Forderungen. Aber die alten Traditionen der Buschleute sind
am Aussterben. Eine meiner fragwürdigsten Entstellungen der Wahrheit könnte letzten Endes die schlichte
Annahme sein, daß in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts überhaupt noch jemand übrig sein
wird, der das Jäger- und Sammlerleben im Busch weiterführt. Aber bei allem Herumdoktern an der Wahrheit
habe ich mich bei meiner Darstellung doch nach Kräften um innere Genauigkeit bemüht.
Sollte ich jemanden beleidigt oder ausgenutzt haben, wäre ich gescheitert. Meine Absicht ist es in erster
Linie, eine Geschichte zu erzählen, aber wenn die Geschichte zur Folge hätte, daß einige Leser mehr über
die Buschleute und über eine Lebensweise erfahren, die keiner von uns achtlos vom Tisch wischen darf, so
wäre ich darüber sehr glücklich.
Vorspann
Im Schlamm fing es an, wie so vieles.
In einer normalen Welt wäre Frühstückszeit gewesen, aber in der Hölle wurde offenbar kein Frühstück
serviert; das Bombardement, das vor Tagesanbruch losgegangen war, sah nicht danach aus, als wollte es
nachlassen. Dem Gefreiten Jonas stand der Sinn ohnehin nicht nach Essen.
Bis auf die kurze Zeit des panischen Rückzugs über ein Stück schlammiger Erde, das wüst und verkratert
war wie der Mond, hatte Paul Jonas diesen ganzen vierundzwanzigsten Tag des Monats März 1918 genauso
zugebracht wie die drei Tage davor und wie den Großteil der letzten paar Monate - zitternd
zusammengekauert im kalten, stinkenden Schleim irgendwo zwischen Ypern und St. Quentin, betäubt von
dem schädelerschütternden Donner der schweren deutschen Geschütze, blindlings zu Irgend Etwas betend,
woran er längst nicht mehr glaubte.
Er hatte Finch und Mullet und den Rest der Einheit im Chaos des Rückzugs irgendwo verloren - hoffentlich,
dachte er, hatten sie wohlbehalten einen anderen Teil der Gräben erreicht, aber es fiel schwer, sehr weit über
das eigene Fleckchen Elend hinauszudenken. Die ganze Welt war naß und pappig. Die aufgerissene Erde,
die skelettartigen Bäume und Paul selbst waren alle reichlich von dem Nieselschleier besprüht worden, der
jedesmal langsam niederging, wenn wieder etliche hundert Pfund rotglühenden Metalls in einer Schar
Menschen explodiert waren.
Roter Nebel, graue Erde, der Himmel fahl wie alte Knochen: Paul Jonas war in der Hölle - aber es war eine
ganz besondere Hölle. Nicht alle darin waren schon tot.
Einer ihrer Bewohner etwa, stellte Paul fest, ließ sich weiß Gott Zeit mit dem Sterben. Dem Klang seiner
Stimme nach zu urteilen konnte der Mann nicht weiter als zwei Dutzend Meter entfernt sein, aber er hätte
genauso gut in Timbuktu sein können. Paul hatte keine Ahnung, wie der verwundete Soldat aussah - seinen
Kopf aus eigenem Antrieb über den Rand des Schützengrabens zu heben, war nicht minder undenkbar, als
aus eigener Willenskraft zu fliegen -, aber was er nur allzu gut kannte, war die Stimme des Mannes, die seit
einer vollen Stunde fluchte, schluchzte und vor Schmerzen wimmerte und jede kleine Pause zwischen dem
Kanonengebrüll ausfüllte.
Die übrigen Männer, die während des Rückzugs getroffen worden waren, hatten alle den Anstand besessen,
rasch zu sterben oder wenigstens leise zu leiden. Pauls unsichtbarer Kamerad hatte nach seinem Feldwebel,
nach seiner Mutter und nach Gott geschrien, und als keiner davon kam, hatte er einfach so weitergeschrien.
Er schrie immer noch, ein schluchzendes, wortloses Heulen. Nachdem er ein gesichtsloser Landser wie
Tausende anderer gewesen war, schien der Verwundete jetzt entschlossen zu sein, jedermann an der
Westfront zum Zeugen seines Sterbens zu machen.
Paul haßte ihn.
Das schreckliche Krachen der Einschläge verstummte. Ein göttlicher Moment der Stille trat ein, bis der
Verwundete wieder anfing zu kreischen; er pfiff wie ein kochender Hummer.
»Hast du mal Feuer?«
Paul drehte sich um. Helle biergelbe Augen starrten neben ihm aus einer Schlammaske heraus. Die
Erscheinung, auf Händen und Knien kauernd, hatte einen Feldmantel an, der so zerschlissen war, daß er aus
Spinnweben zu bestehen schien.
»Was?«
»Hast du mal Feuer? Ein Streichholz?«
Die Normalität der Frage inmitten von so viel Irrealem überraschte Paul dermaßen, daß er nicht wußte, ob er
richtig gehört hatte. Die Gestalt hob eine Hand hoch, nicht minder schlammig als das Gesicht, und hielt ihm
ein schlankes weißes Röllchen vor die Nase, so strahlend sauber, als wäre es eben vom Mond gefallen.
»Hörst du schlecht, Mensch? Feuer?«
Paul langte in seine Tasche und fummelte mit tauben Fingern darin herum, bis er eine Schachtel
Streichhölzer gefunden hatte, in verblüffend trockenem Zustand. Der verwundete Soldat fing an, noch lauter
zu heulen, einen Steinwurf entfernt in der Wüste verloren.
Der Mann im abgerissenen Feldmantel ließ sich an die Wand des Grabens zurückkippen und schmiegte die
Krümmung seines Rückens in den schützenden Schlamm, dann zerpflückte er die Zigarette behutsam in
zwei Teile und gab einen davon Paul. Als er das Streichholz anzündete, neigte er lauschend den Kopf.
»Gütiger Himmel, schreit der da oben immer noch!« Er gab die Steichhölzer zurück und hielt die Flamme
still, damit Paul seine Zigarette auch anzünden konnte. »Hätte der Fritz ihm doch richtig eine verpassen
können, dann hätten wir wenigstens ein bißchen Frieden.«
Paul nickte. Schon das war eine Anstrengung.
Sein Gefährte reckte das Kinn hoch und ließ ein Rauchfähnchen entweichen, das sich um den Rand seines
Helms ringelte und sich vor dem stumpfen Morgenhimmel in Luft auflöste. »Hast du je das Gefühl...?«
»Gefühl?«
»Daß es ein Irrtum ist.« Der Fremde bedeutete mit einer Kopfbewegung die Schützengräben, die deutschen
Kanonen, die ganze Westfront.
»Daß Gott auf und davon ist oder ein Nickerchen macht oder sonstwas.
Hoffst du nicht auch manchmal, daß er eines Tages runterschaut und sieht, was hier los ist, und... und was
dagegen unternimmt?«
Paul nickte, obwohl er sich die Sache noch nie so genau überlegt hatte. Aber er hatte die Leere des ewig
grauen Himmels empfunden, und hin und wieder hatte er das merkwürdige Gefühl gehabt, aus weiter Ferne
auf das Blut und den Schlamm hinunterzuschauen und die mörderischen Kampfhandlungen mit dem inneren
Abstand eines Mannes zu betrachten, der vor einem Ameisenhaufen steht. Gott konnte nicht zuschauen,
soviel war sicher; wenn doch, und wenn er die Dinge gesehen hatte, die Paul Jonas gesehen hatte - Männer,
die tot waren, aber es noch nicht wußten, sondern hektisch versuchten, ihre hervorquellenden Eingeweide in
ihre Feldjacken zurückzustopfen; geschwollene und fliegenbesudelte Leichen, die tagelang unbestattet
wenige Meter von Freunden entfernt lagen, mit denen sie gesungen und gelacht hatten -, wenn er das alles
gesehen hatte, ohne einzugreifen, dann mußte er verrückt sein.
Aber Paul hatte noch niemals auch nur einen Moment lang geglaubt, daß Gott die winzigen Kreaturen, die
sich zu Tausenden auf einem zerbombten Schlammfeld abschlachteten, retten würde. Das war einfach zu
märchenhaft. Bettelknaben heirateten keine Prinzessinnen; sie starben in verschneiten Straßen oder dunklen
Gassen... oder in schlammigen Schützengräben in Frankreich, während der alte Papa Gott sich gründlich
ausschlief.
Er raffte sich zu einer Frage auf. »Irgendwas gehört?«
Der Fremde zog inbrünstig an seiner Zigarette, ohne sich darum zu kümmern, daß die Glut an seinen
schlammigen Fingern brannte, und sagte. »Alles. Nichts. Das Übliche. Der Fritz bricht im Süden durch und
wird schnurstracks bis Paris vorstoßen. Oder die Yanks sind jetzt dort, und wir werden sie aufrollen wie
nichts und im Juni in Berlin einmarschieren. Die geflügelte Siegesgöttin von Samodingsbums ist am
Himmel über Flandern erschienen, dabei hat sie ein Flammenschwert geschwenkt und den Hootchy-cootchy
getanzt. Alles Scheiße.«
»Alles Scheiße«, pflichtete Paul bei. Er zog nochmal an seiner Zigarette und ließ sie dann in eine Pfütze
fallen. Traurig sah er zu, wie schlammiges Wasser das Papier durchtränkte und die letzten Krümel Tabak
darin schwammen. Wie viele Zigaretten würde er noch rauchen, bevor der Tod ihn traf? Ein Dutzend?
Hundert? Oder war das vielleicht seine letzte? Er hob das Papier auf und zerknüllte es zwischen Finger und
Daumen zu einem festen Kügelchen.
»Danke, Kamerad.« Der Fremde wälzte sich herum und kroch schon durch den Graben davon, als er noch
etwas Seltsames über die Schulter rief. »Halt dich bedeckt. Überleg dir mal, wie du rauskommst. Wie du
wirklich raus kommst.«
Paul erhob die Hand zum Abschiedsgruß, obwohl der Mann ihn gar nicht sehen konnte. Der verwundete
Soldat oben brüllte schon wieder, wortlose grunzende Schreie, die sich anhörten, als ob etwas
Unmenschliches in den Geburtswehen läge.
Unmittelbar darauf, wie aufgeweckt von einer dämonischen Anrufung, nahmen die Geschütze das Feuer
wieder auf.
Paul biß die Zähne zusammen und versuchte sich die Ohren zuzuhalten, aber immer noch konnte er den
Mann schreien hören; die krächzende Stimme war wie ein heißer Draht, der zum einen Ohr hinein und zum
anderen hinaus ging und dabei hin und her sägte. Er hatte in den letzten zwei Tagen vielleicht drei Stunden
Schlaf ergattert, und die rasch näherrückende Nacht würde bestimmt noch schlimmer werden.
Warum waren keine Krankenträger losgelaufen, um den Verwundeten zu holen? Die Geschütze schwiegen
seit mindestens einer Stunde.
Aber als er darüber nachdachte, ging Paul auf, daß er außer dem Mann, der ihn um Feuer gebeten hatte,
niemanden gesehen hatte, seit sie alle heute morgen aus den vorderen Gräben geflohen waren. Er hatte
angenommen, daß nur ein paar Biegungen weiter noch andere saßen, und der Mann mit der Zigarette schien
das bestätigt zu haben, aber der Beschüß war so stetig gewesen, daß Paul nicht den Wunsch verspürt hatte,
sich vom Fleck zu bewegen. Jetzt, wo seit einer Weile Ruhe herrschte, fragte er sich, wie es um den Rest der
Einheit stand.
Hatten sich Finch und die übrigen alle noch weiter zurückgezogen, in irgendwelche früher gebuddelten
Löcher? Oder lagen sie bloß ein paar Meter weiter platt am Boden und waren von keinen zehn Pferden aufs
offene Schlachtfeld zu bringen, auch nicht für einen Hilfseinsatz?
Er ließ sich auf die Knie fallen, schob den Helm nach hinten, damit er ihm nicht über die Augen rutschte,
und kroch in westlicher Richtung los. Obwohl er sich weit unterhalb des Grabenrands hielt, empfand er
seine Bewegung als provokativen Akt. In Erwartung eines furchtbaren Schlages von oben zog er die
Schultern hoch, aber außer dem unablässigen Jammern des sterbenden Mannes kam nichts.
Zwanzig Meter und zwei Biegungen weiter stieß er auf eine Wand aus Schlamm.
Paul versuchte sich die Tränen wegzuwischen, aber rieb sich dabei nur Schmutz in die Augen. Eine letzte
Explosion ertönte droben, und die Erde bebte im Einklang. Ein Klumpen Schlamm an einer der in den
Graben ragenden Wurzeln erzitterte, fiel ab und wurde ein nicht zu unterscheidender Teil der allgemeinen
Schlammigkeit des Bodens.
Er saß in der Falle. Das war die schlichte, schreckliche Wahrheit.
Sofern er sich nicht oben aufs ungeschützte Gelände wagte, konnte er sich nur in seinem abgeschnittenen
Stück Schützengraben zusammenkauern, bis ihn eine Granate traf. Er machte sich keine Illusionen, daß er
lange genug durchhalten würde, um mit Verhungern rechnen zu müssen. Er machte sich überhaupt keine
Illusionen. Er war so gut wie tot. Nie wieder würde er Mullet über die Rationen klagen hören oder den guten
alten Finch dabei beobachten, wie er sich den Schnurrbart mit dem Taschenmesser stutzte. Solche
Kleinigkeiten, so nichtig, und doch vermißte er sie schon so sehr, daß es weh tat.
Der Sterbende war immer noch dort draußen und heulte.
Dies ist die Hölle, drin bin ich, nicht draußen... Wo war das her? Aus einem Gedicht? Der Bibel?
Er knipste sein Halfter auf und zog seine Webley, führte sie vor sein Auge. In dem schwindenden Licht
wirkte das Loch im Lauf brunnentief, eine Leere, in die er hineinfallen konnte, um nie wieder
herauszukommen, eine stille, dunkle, Ruhe spendende Leere...
Paul verzog den Mund zu einem trostlosen kleinen Lächeln, dann legte er vorsichtig den Revolver in seinen
Schoß. Es wäre unpatriotisch, zweifellos. Lieber die Deutschen zwingen, ihre teuren Granaten an ihn zu
verschwenden. Noch ein paar Arbeitsstunden mehr aus einem Fräulein mit frostblauen Armen an einem
Fließband an der Ruhr herausschinden. Und überhaupt, Hoffnung gab es immer, oder?
Er fing abermals an zu weinen.
Oben unterbrach der Verwundete einen Augenblick sein Kreischen, um zu husten. Er hörte sich an wie ein
Hund, der Prügel kriegte. Paul legte den Kopf nach hinten in den Schlamm und brüllte: »Hält's Maul! Halt
um Himmels willen das Maul!« Er holte tief Luft. »Halt endlich dein Maul und verreck, verdammt
nochmal!«
Von der Tatsache, daß er Gesellschaft hatte, offenbar ermuntert, fing der Mann wieder zu schreien an.
Die Nacht schien ein Jahr oder noch länger zu dauern, Monate der Finsternis, große Blöcke aus
unbeweglichem Schwarz. Die Geschütze knatterten und brüllten. Der sterbende Mann heulte. Paul zählte
jeden einzelnen Gegenstand, an den er sich aus seinem Leben vor den Schützengräben erinnern konnte, dann
fing er wieder von vorne an und zählte abermals. Bei einigen wußte er nur noch die Namen, aber nicht mehr,
was die Namen eigentlich hießen. Manche Worte wirkten unglaublich fremd - »Liegestuhl« war eines,
»Badewanne« ein anderes. »Garten « kam in mehreren Liedern im Gesangbuch des Kompaniepfarrers vor,
aber Paul war sich ziemlich sicher, daß das auch etwas Wirkliches
war, und so zählte er es mit.
»Überleg dir mal, wie du rauskommst«, hatte der gelbäugige Mann gesagt. »Wie du wirklich raus kommst.«
Die Geschütze schwiegen. Der Himmel war eine Idee fahler geworden, als ob jemand mit einem
schmutzigen Lumpen drübergewischt hätte. Es war gerade so hell, daß Paul den Rand des Schützengrabens
sehen konnte. Er kletterte hoch und rutschte so prompt ab, daß er über das Auf und Nieder lachen mußte.
Wie du rauskommst. Er fand mit seinem Fuß eine dicke Wurzel und schwang sich auf den Rand der
Feldschanze. Er hatte seine Waffe dabei. Er wollte den fortwährend schreienden Mann umbringen. Viel
mehr wußte er nicht.
Irgendwo kam die Sonne hoch, obwohl Paul keine Ahnung hatte, wo genau das sein mochte: die entstehende
Helligkeit war gering und über eine weite, matte Himmelsfläche verschmiert. Unter diesem Himmel war
alles grau. Schlamm und Wasser. Er wußte, daß die flachen Stellen das Wasser waren, also mußte alles
andere Schlamm sein, bis auf die hohen Dinger vielleicht. Ja, das waren Bäume, erinnerte er sich.
Waren Bäume gewesen.
Paul stand auf und drehte sich langsam im Kreis. Die Welt ging in allen Richtungen nur wenige hundert
Meter weit, bevor sie im Dunst endete. Er fühlte sich mitten in einem leeren Raum ausgesetzt, so als hätte er
sich versehentlich auf eine Bühne verirrt und stände jetzt vor einem schweigenden, erwartungsvollen
Publikum.
Doch er war nicht ganz allein. Irgendwo im Leeren stand ein einsamer Baum, eine krallende Hand mit einem
verdrehten Stacheldrahtarmband. Etwas Dunkles hing in seinen entblößten Ästen. Paul zog den Revolver
und stolperte darauf zu.
Eine menschliche Gestalt hing kopfunter im Baum wie eine weggeworfene Marionette, ein Bein in dem
spitzen Winkel zwischen Ast und Stamm verklemmt. Alle ihre Gliedmaßen schienen gebrochen zu sein, und
die Arme baumelten mit greifenden Fingern nach unten, als ob der Modder der Himmel wäre und sie zu
fliegen gedächte. Die Vorderseite des Kopfes war eine zerfetzte, konturlose Masse, rot und schwarz
verbrannt und grau, bis auf ein hell glotzendes gelbes Auge, irr und starr wie ein Vogelauge, das sein
langsames Näherkommen beobachtete.
»Ich bin draußen«, sagte Paul. Er hob die Waffe, aber der Mann schrie gerade nicht.
Ein Loch ging in dem verwüsteten Gesicht auf. Es redete. »Endlich kommst du. Ich habe auf dich gewartet.«
Paul stierte. Der Revolvergriff war glitschig in seinen Fingern. Sein Arm zitterte vor Anstrengung, oben zu
bleiben.
»Gewartet?«
»Gewartet. So lange gewartet.« Der Mund, leer bis auf ein paar rot eingelegte weiße Splitter, verzog sich zu
einem umgekehrten Grinsen. »Hast du je das Gefühl...?«
Paul zuckte zusammen, als das Schreien wieder losging. Aber es konnte nicht der sterbende Mann sein - dies
hier war der sterbende Mann. Demnach...
»Gefühl?« fragte er und blickte auf.
Die dunkle Form stürzte aus dem Himmel auf ihn zu, ein schwarzes Loch in der stumpfgrauen Luft; sie pfiff
im Fallen. Der dumpfe Knall der Haubitze folgte einen Moment später, als ob die Zeit sich zurückgewandt
und sich selbst in den Schwanz gebissen hätte.
»Daß es ein Irrtum ist«, sagte der hängende Mann.
Und dann schlug die Granate ein, und die Welt klappte zusammen:
Kniff für Kniff wurde sie lichterloh brennend immer kleiner eingefaltet und dann an den Kanten
plattgedrückt, bis alles verschwunden war.
Nach Pauls Tod wurde alles noch komplizierter.
Er war natürlich tot, und er wußte es auch. Was hätte er sonst sein sollen? Er hatte das Haubitzengeschoß
vom Himmel auf sich niedergehen sehen, einen flügellosen, augenlosen, atemberaubend modernen
Todesengel, stromlinienförmig und unpersönlich wie ein Hai. Er hatte gespürt, wie ein Stoß durch die Welt
ging und die Luft Feuer fing, wie der Sauerstoff aus seinen Lungen floh und diese in seiner Brust zu Kruste
verkohlten. Es konnte keinen Zweifel geben, daß er tot war.
Aber warum tat ihm der Kopf weh?
Natürlich ließ sich in einem Leben nach dem Tode, in dem die Strafe für eine verpfuschte Existenz ein ewig
hämmernder Kopfschmerz war, ein gewisser Sinn sehen. Ein Sinn der grauenhafteren Art.
Paul schlug die Augen auf und blinzelte vor Helligkeit.
Er saß aufrecht am Rand eines riesigen Kraters - eine unbedingt tödliche Wunde, tief in die schlammige
Erde gebohrt Das Gelände ringsherum war flach und leer. Es gab keine Schützengräben, oder falls doch,
waren sie unter dem Auswurf der Explosion begraben; in allen Richtungen sah er nichts als aufgewühlten
Schlamm bis zum um.schließenden Horizont, wo die Erde selbst im grauschimmernden Dunst verschwamm.
Aber irgend etwas Festes war hinter ihm und gab ihm Halt, und das Druckgefühl im Kreuz und an den
Schulterblättern ließ in ihm erste Zweifel aufkommen, ob er sich den Tod nicht zu früh eingebildet hatte.
Als er den Kopf in den Nacken legte, um nachzuschauen, rutschte ihm sein Helm über die Augen, so daß er
einen Moment lang wieder im Finstern saß, glitt dann weiter übers Gesicht und fiel ihm in den Schoß.
Er starrte den Helm an. Der obere Teil war weitgehend weggesprengt; das zerrissene und verbogene Metall
des Randes ähnelte nichts so sehr wie einer Dornenkrone.
Horrorgeschichten von bombardierten Soldaten fielen ihm ein, die ohne Kopf oder mit den eigenen
Innereien in den Händen noch zwei Dutzend Meter gelaufen waren, ohne ihren Zustand zu begreifen, und
ein heftiges Zittern ergriff Paul. Langsam, wie in einem grausigen Spiel mit sich selbst, befühlte er mit den
Fingern das Gesicht, fuhr sich damit über Wangen und Schläfen, tastete nach der Schädeldecke in der
Erwartung, nur noch Brei vorzufinden. Er fühlte Haare, Haut und Knochen... aber alles an seinem richtigen
Platz. Keine Wunde. Als er sich die Hände vors Gesicht hielt, waren sie ebenso mit Blut beschmiert wie mit
Schlamm, aber das Rot war schon trocken, alte Farbe, Pulver. Er ließ die lange angehaltene Luft hinaus.
Er war tot, aber sein Kopf tat weh. Er war am Leben, aber ein rotglühender Granatsplitter hatte seinen Helm
durchschlitzt wie ein Messer eine Tortenglasur.
Paul blickte auf und sah den Baum, das kleine, skelettartige Ding, das ihn ins Niemandsland hinausgelockt
hatte. Den Baum, in dem der sterbende Mann gehangen hatte.
Jetzt ragte er durch die Wolken.
Paul Jonas seufzte. Er war fünfmal um den Baum herumgegangen, und das Ding machte keinerlei Anstalten,
weniger unmöglich zu werden.
Das zierliche, blattlose Bäumchen war so hoch gewachsen, daß seine Krone hinter den Wolken verborgen
war, die bewegungslos am grauen Himmel hingen. Sein Stamm war so breit wie ein Burgturm aus dem
Märchen, ein gewaltiger Zylinder aus rauher Rinde, der sich genauso weit nach unten wie nach oben zu
erstrecken schien, denn er stieß ganz gerade in den Bombenkrater hinab und verschwand auf dem Grund in
der Erde, ohne Wurzeln erkennen zu lassen.
Er war um den Baum herumgegangen und konnte sich keinen Reim darauf machen. Er war vom Baum
weggegangen in der Hoffnung, einen Blickwinkel zu finden, aus dem er seine Höhe abschätzen konnte, aber
das hatte seinem Verständnis auch nicht aufgeholfen. Ganz gleich, wie weit zurück er über die kahle Ebene
stolperte, der Baum ragte weiterhin durch die Wolkendecke. Und ob er wollte oder nicht, er mußte stets zu
dem Baum zurückkehren. Nicht nur, daß sich nirgends ein anderes Ziel bot, nein, die Welt selbst wirkte
irgendwie gekrümmt, so daß er sich am Schluß immer wieder auf den monumentalen Stamm zubewegte, ob
er nun diese oder jene Richtung einschlug.
Er setzte sich eine Zeitlang mit dem Rücken dagegen und versuchte zu schlafen. Der Schlaf wollte nicht
kommen, aber er hielt seine Augen trotzdem hartnäckig geschlossen. Die Rätsel, die sich ihm stellten,
paßten ihm nicht. Er war von einer explodierenden Granate getroffen worden. Der Krieg und alle daran
Zgłoś jeśli naruszono regulamin