Heyne 03477 - Silverberg, Robert - Ein Glücklicher Tag Im Jahr 2381.pdf

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Wir wurden geboren, um uns mit unseren Mitmenschen zu
vereinen und in der Gemeinschaft der menschlichen Rasse
aufzugehen.
Cicero, De finibus, IV.
Von allen Tieren sind die Menschen am wenigsten dazu
geeignet, in Herden zu leben. Wenn sie wie Schafe zusammen-
gepfercht würden, so müßten sie alle in kürzester Zeit unterge-
hen. Der Atem des Menschen ist gefährlich für seinen Nachbarn.
Jean-Jacques Rousseau, Emile, I.
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Soeben beginnt ein glücklicher Tag im Jahr 2381. Die Morgen-
sonne steht schon hoch genug, um die obersten fünfzig
Stockwerke von Urban Monad 116 zu berühren. Bald wird die
ganze östliche Gebäudefront im Licht der Sonne glitzern wie die
See bei Tagesanbruch. Die frühen Lichtimpulse der Dämmerung
bewirken, daß Charles Matterns Fenster allmählich lichtdurchläs-
sig wird. Er regt sich. Gott segne, denkt er. Seine Frau seufzt
und streckt ihre Glieder. Seine vier Kinder, die schon seit
Stunden wach gelegen haben, können jetzt offiziell ihren Tag
beginnen. Sie erheben sich und hüpfen durch das Schlafzimmer,
während sie singen:
Gott segne, Gott segne, Gott segne!
Gott segne jeden von uns!
Gott segne Daddo, Gott segne Mommo,
Gott segne dich und mich!
Gott segne uns alle, die Kleinen und die Großen,
und schenke uns die Frucht-bar-keiiit!
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Robert Silverberg – Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
Sie drängen sich zur Schlafplattform ihrer Eltern. Mattern
erhebt sich und umarmt sie. Indra ist acht, Sandor ist sieben,
Marx ist fünf, Cleo ist drei. Insgeheim schämt sich Charles
Mattern, daß seine Familie so klein ist. Kann ein Mann mit nur
vier Kindern wahrhaftig sagen, daß er seine Ehrfurcht vor dem
Leben erwiesen hat? Aber Prinzipessas Schoß trägt keine Früchte
mehr. Die Ärzte haben erklärt, daß ihr Schoß nicht mehr
fruchtbar ist. Sie ist einundzwanzig und steril! Mattern denkt
daran, sich eine zweite Frau zu nehmen. Es verlangt ihn danach,
wieder das Schreien eines Neugeborenen zu hören; und in jedem
Fall muß ein Mann seine Pflicht vor Gott erfüllen. Sandor sagt:
»Daddo, Siegmund ist noch immer hier.« Das Kind streckt die
Hand aus, und Mattern sieht in die angegebene Richtung. Neben
Prinzipessa liegt der vierzehnjährige Siegmund Klüver auf der
Schlafplattform, der einige Stunden nach Mitternacht hereinge-
kommen war, um sein Gastrecht auszuüben. Siegmund zieht
ältere Frauen vor. Er ist in den letzten Wochen schon etwas
lästig geworden. Er schnarcht jetzt; er hat eine anstrengende
Nacht hinter sich. Mattern schüttelt ihn leicht. »Siegmund?
Siegmund, es ist schon Morgen.« Die Augen des jungen Mannes
öffnen sich. Er lächelt Mattern an, setzt sich auf und greift nach
seinem Umhang. Er ist eigentlich ganz umgänglich. Er lebt in der
787. Etage und hat schon ein Kind, das nächste ist bereits
unterwegs.
»Tut mir leid«, sagt Siegmund. »Ich habe verschlafen.
Prinzipessa beansprucht mich sehr. Sie ist wie eine Wilde!«
»Ja, sie ist sehr leidenschaftlich«, stimmt Mattern zu. Wie es
auch Siegmunds Frau Mamelon ist, nach allem, was Mattern
gehört hat. Wenn sie ein wenig älter sein wird, will es Mattern
einmal mit ihr versuchen. Nächstes Frühjahr vielleicht.
Siegmund hält den Kopf unter die Molekulardusche. Prinzipessa
ist inzwischen aufgestanden. Sie nickt ihrem Mann leicht zu und
betätigt den Fußhebel, der die Luft aus der Schlafplattform
entweichen läßt. Sie macht sich daran, das Frühstück zu
programmieren. Indra streckt ihre blasse, fast durchsichtige
Hand aus, um den Schirm einzuschalten. Die Wand erblüht in
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Licht und Farbe. »Guten Morgen«, wünscht der Bildschirm
herzlich. »Die Außentemperatur, sofern das jemanden interes-
siert, beträgt 28°. Die heutige Bevölkerungszahl von Urbmon
116 erreicht 881.115, das ist 102 mehr als gestern und 14.187
mehr als am ersten Tag dieses Jahres. Gott segne, aber wir
bleiben zurück gegenüber Urbmon 117! Dort haben sie seit
gestern um 131 zugenommen, einschließlich der Vierlinge von
Frau Hula Jabotinsky. Sie ist achtzehn und hat vorher schon
sieben Kinder gehabt. Eine wirkliche Dienerin Gottes, nicht
wahr? Die Zeit ist jetzt 0620. In genau vierzig Minuten wird
Urbmon 116 durch die Ankunft von Nicanor Gortman geehrt
werden, den uns besuchenden Soziocomputator von Hell, der an
seiner auffallenden Gästekleidung in Karmesinrot und Ultraviolett
erkannt werden kann. Dr. Gortman wird bei Charles Mattern in
der 799. Etage zu Gast sein. Natürlich werden wir ihm mit
derselben segensreichen Freundlichkeit begegnen wie jedem von
uns. Gott segne Nicanor Gortman! Wir wenden uns jetzt den
Nachrichten von den niederen Etagen von Urbmon 116 zu…«
»Habt ihr das gehört, Kinder?« fragt Prinzipessa. »Wir werden
einen Gast bekommen, und wir müssen unseren Segen mit ihm
teilen. Kommt und eßt!«
Nachdem er Toilette gemacht, sich gekleidet und das Frühstück
eingenommen hat, begibt sich Charles Mattern zur Landeplatt-
form auf der 1000. Etage, um Nicanor Gortman zu empfangen.
Während er bis zum höchsten Punkt des Gebäudes hochschwebt,
bewegt er sich an den Etagen vorbei, in denen seine Brüder und
Schwestern und deren Familien leben. Drei Brüder, drei
Schwestern. Vier von ihnen jünger als er, zwei älter. Alle recht
erfolgreich. Ein Bruder schon in jungen Jahren gestorben, leider.
Jeffrey. Mattern denkt selten an Jeffrey. Jetzt passiert er die
Etagen von Louisville, dem Verwaltungssektor. In wenigen
Augenblicken wird er seinem Gast begegnen. Gortman hat die
Tropen bereist und will jetzt eine typische Stadteinheit in der
gemäßigten Zone besichtigen. Es ist eine Ehre für Mattern, daß
er den offiziellen Gast bewirten darf. Er tritt auf die Landeplatt-
form hinaus, die sich am höchsten Punkt von Urbmon 116
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Robert Silverberg – Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
befindet. Ein Kraftfeld schützt ihn vor den heftigen Winden, die
in dieser Höhe toben. Er sieht nach links und bemerkt die noch
immer in Dunkelheit liegende Westfront von Urban Monad 115.
Zu seiner Rechten blitzen die Ostfenster von Urbmon 117 auf.
Gott segne Frau Hula Jabotinsky und ihre elf Kleinen, denkt
Mattern. Mattern kann die anderen Urbmons in der Reihe
erkennen, die sich bis zum Horizont hin erstrecken, drei
Kilometer hohe Türme aus hochbelastbarem Beton, die sich
graziösen Statuen gleich nach oben hin verjüngen. Es ist ein
erregender Anblick. Gott segne, denkt er. Gott segne, Gott
segne, Gott segne!
Er hört das laute Summen von Rotoren. Ein Schnellboot landet.
Ein großer, kräftiger Mann tritt heraus, gekleidet in ein Gewand
mit den Farben vom äußersten Ende des Spektrums. Das muß
der Soziocomputator von Hell sein.
»Nicanor Gortman?« fragt Mattern. – »Gottes Segen. Charles
Mattern?«
»Gott segne, ja. Kommen Sie.«
Hell ist eine der sieben Städte auf der Venus, die der Mensch
zu einer für ihn angenehmen Umwelt geformt hat. Gortman war
noch nie zuvor auf der Erde. Er spricht langsam und monoton,
ohne jeden Rhythmus; die Betonung erinnert Mattern an die Art
und Weise, wie in Urbmon 84 gesprochen wird, das er von einer
beruflich bedingten Reise her kennt. Er hat Gortmans bisherige
Veröffentlichungen gelesen: seriöse Arbeiten, gründlich und mit
dem Augenmaß der Vernunft. »Besonders hat mir Die Dynamik
der Jagdethik gefallen«, sagt Mattern, während sie den Lift
betreten. »Bemerkenswert. Wahrhaft eine Offenbarung.«
»Meinen Sie das im Ernst?« fragt Gortman geschmeichelt
zurück.
»Natürlich. Ich bemühe mich, laufend die wichtigsten venusia-
nischen Publikationen zu verfolgen. Es ist faszinierend, über
fremdartige Gebräuche zu lesen. Wie zum Beispiel das Jagen
wilder Tiere.«
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