Meyer, Kai - Der Schattenesser.pdf

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Das Buch
KAI MEYER
DER
SCHATTENESSER
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Das Buch
Prag im Jahre 1620: Das Heer der katholischen Liga hält die
Stadt besetzt. Raub und Hinrichtungen sind an der Tagesord-
nung. Ganz Böhmen ist verwüstet. Durch diese apokalypti-
sche Landschaft zieht eine viel größere Gefahr - ein geisterhaf-
ter Mörder, der den Menschen ihre Schatten stiehlt. Die junge
Sarai wird zum Ziel seiner Wut, als sie dem rätselhaften Tod
ihres Vaters nachspürt. Eine aufregende Jagd durch das
historische Prag beginnt. Aus finsteren Gassen und
Hinterhöfen treten bizarre Gestalten ans Licht. Sarai trifft Kas-
par, die lebende Kanonenkugel, und den unsterblichen Lean-
der Nadeltanz, den Herrn des Schattentheaters. Der Golem,
die sagenhafte Lehmgestalt des Rabbi Löw, erwacht in seinem
lichten Grab. Ein verrückter Papiermacher schafft Knochen-
frauen aus Pappmache", und durch die Ruinen Böhmens reitet
die mystische Baba Jaga in ihrem Hexenhaus auf Hühnerbei-
nen.
Doch als Sarai die Wahrheit über den Schattenesser erfährt, be-
greift sie, daß ihr der wahre Blick in den Abgrund von Wahn
und Wirklichkeit, von Liebe und Vernichtung noch bevor-
steht.
Der Autor
Kai Meyer, Jahrgang 1969, hat zahlreiche historische Romane
veröffentlicht. Mit Die Geistseher gelang ihm der große Durch-
bruch. Die Neue-Ruhr-Zeitung schrieb: >So fabulieren wie Kai
Meyer kann in Deutschland kaum ein anderer. Kai Meyer lebt
als freier Autor in der Nähe von Köln. Ebenso im Wilhelm
Heyne Verlag erschienen sind: Der Rattenzauber (01/10524),
Das Gelübde (01/10654) und Die Alchimistin (43/81).
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HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr.
01/10780
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http://www.heyne.de
Umwelthinweis:
Das Buch wurde auf
chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Copyright © Rüttcn & Loening Berlin GmbH 1996
Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1998
Umschlagillustration: Christie's Artothek, Peißenberg
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München,
unter Verwendung des Gemäldes >Prag, Karlsbrücke,
Moldau und Hradschin< von C. F- Kessler, 1845
Satz: Pinkuin Satz- und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindung: Ebner Ulm
ISBN 3-453-14700-6
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PROLOG
Prag, im November 1620
Synagoge über die Giebel der Judenstadt und war-
tete, daß der Vogel Koreh zu ihm sprach. Der Mann Josef
lauschte oft auf seine Stimme. Es war die einzige, die er
zu hören vermochte.
Der Mann Josef trauerte. Er wünschte sich, es wäre
nicht an ihm, die Stimme des Vogels Koreh zu verneh-
men. Kaum ein anderer besaß diese Gabe, erlitt diesen
Fluch.
Er versuchte, sich abzulenken, und gab den Zahlen
Farben. Wenn er die Augen schloß und sich die Ziffer
Eins vorstellte, dann sah er sie in grellem, makellosem
Weiß, Die Zwei war gelb, die Drei orange. Die Vier dage-
gen schwieriger: Mal war sie grün, mal dunkelblau.
Nicht so die Fünf, ein Kinderspiel: Er sah sie rot, ganz
blutig rot. Die Sechs war blau, die Sieben grün. Die Acht
war braun, die Neun pechschwarz, die Zehn mal weiß,
mal nebliggrau. Alle höheren Zahlen hatten keine Far-
ben, sie waren nur fahle Schemen wie Morgendunst,
ganz unbedeutend.
Der Vogel Koreh - da, jetzt kam er. Er hörte ihn.
Einst lebte der Vogel Koreh an den Ufern der fernen
Judenländer, und er legte viele Eier. Doch bei aller
Fruchtbarkeit war er ein ängstliches Tier, denn er fürch-
tete nichts mehr, als daß eines Tages jemand sein Nest
und all seine Eier zerstören könnte. Deshalb erhob er
sich hoch in die Luft und kreiste über den Bergen und
Ebenen, bis er viele Nester anderer Vögel entdeckt hatte,
D er Mann Josef blickte aus der Dachluke der Altneu-
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in denen er seine eigenen Eier verstecken konnte -
glaubte er doch, seine Kinder seien so sicher und ge-
schützt denn niemand würde alle Vogelnester der Welt
zerschlagen. So wartete der Vogel Koreh eine günstige
Gelegenheit ab, bis die Bewohner der anderen Nester für
kurze Zeit unachtsam waren; dann schoß er geschwind
heran und legte je eines seiner Eier unter die der fremden
Vögel. So kam es, daß bald schon in jedem Nest der Welt
ein Ei des Vogels Koreh reifte, ohne daß Tier oder
Mensch es bemerkten. Schließlich schlüpften seine Kin-
der aus, wuchsen heran und wurden klug und kräftig
wie er selbst. Des Nachts, wenn alle anderen schliefen,
schwebte der Vogel Koreh über den weiten Ländern ein-
her und rief seine Kinder herbei. Sie hörten ihn, spreiz-
ten ihre Schwingen und folgten ihm gen Himmel. Die
anderen Vögel aber konnten seine Stimme nicht hören,
sie schliefen ruhig und ungestört.
So war es bis zum heutigen Tag. Der Vogel Koreh
schwebte über der Welt, und er sah und hörte vieles auf
seinen Wegen, doch nur wenige konnten seine Botschaft
verstehen.
Der Mann Josef aber wußte, wie er den Erzählungen
des Vogels zu lauschen hatte, und so horchte er gedul-
dig, und er erfuhr, was unter ihm in der Judenstadt vor-
ging-
Was er hörte, machte ihm angst.
Es war wieder geschehen. Der Schattenesser war un-
ter den Menschen, und er hatte neue Opfer gefunden.
Der Mann Josef war hilflos. Dabei wäre es seine Auf-
gabe gewesen, zu helfen. Zum Helfen hatte man ihn ge-
macht.
Er schloß die Dachluke über seinem Kopf und stieg
die Leiter hinab. Er spürte den Schattenesser in den Gas-
sen, hörte das Trauerlied des Vogels Koreh und schlug
die Hände vor die Ohren. Es brachte keine Linderung. Er
hätte gerne geweint, aber das vermochte er nicht.
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