(ebook - german) King, Stephen - Die Augen des Drachen.PDF

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In einem Königreich namens Delain lebte einst ein Kö-
nig, der hatte zwei Söhne. Delain war ein sehr altes Kö-
nigreich, und es hatten dort Hundert von Königen re-
giert, vielleicht sogar Tausende; wenn genügend Zeit
verstrichen ist, können nicht einmal Historiker sich an al-
les erinnern. Roland, der Gütige, war weder der beste
noch der schlechteste König, der das Land bisher regiert
hatte. Er gab sich große Mühe, keinem Unrecht zu tun,
was ihm meistens auch gelang. Er versuchte außerdem,
große Taten zu vollbringen, aber unglücklicherweise ge-
lang ihm das nicht immer. Das Ergebnis war ein recht
mittelmäßiger König, und er bezweifelte, daß man seiner
nach seinem Tode noch lange gedenken würde. Und der
Tod konnte ihn in jedem Augenblick holen, denn er war
alt geworden, und sein Herz war schwach. Er hatte viel-
leicht noch ein Jahr zu leben, vielleicht drei. Jeder, der
ihn kannte, und alle, die sein graues Gesicht und die zit-
ternden Hände gesehen hatten, wenn er Hof hielt, wa-
ren sich darin einig, daß in allerhöchstens fünf Jahren ein
neuer König auf dem großen Platz am Fuße der Nadel ge-
krönt werden würde... und nur wenn Gott gnädig war,
waren ihm noch fünf Jahre vergönnt. Daher sprach jeder
im Königreich, vom reichsten Baron und prunkvoll ge-
kleideten Höfling bis hin zum ärmsten Leibeigenen und
seiner zerlumpten Frau, vom künftigen König, Rolands
ältestem Sohn, Peter.
Nur ein Mann überlegte und plante und dachte über
etwas anderes nach: Wie er es bewerkstelligen könnte,
daß Rolands jüngerer Sohn, Thomas, statt seiner zum
König gekrönt wurde. Dieser Mann war Flagg, der Hof-
zauberer des Königs.
Wenngleich Roland, der König, alt war - er selbst sprach
von siebzig Jahren, aber er war ganz bestimmt älter —, so
waren doch seine beiden Söhne noch jung. Er hatte erst
spät geheiratet, weil er keine Frau gefunden hatte, die
seinen Ansprüchen genügte, und weil seine Mutter, die
große Königinwitwe von Delain, für Roland und alle an-
deren — einschließlich ihrer selbst — schier unsterblich
zu sein schien. Sie hatte fast fünfzig Jahre lang über das
Königreich geherrscht, als sie sich eines Tages ein Stück
Zitrone in den Mund steckte, um einen schmerzenden
Husten zu lindern, welcher sie schon seit mehr als einer
Woche peinigte. Zu eben diesem Zeitpunkt führte ein
Jongleur zur Erbauung der Königinwitwe und ihres Ho-
fes seine Kunststücke vor. Er jonglierte mit fünf kunst-
voll gefertigten Kristallkugeln. In dem Augenblick, als
sich die Königin die Zitronenscheibe in den Mund schob,
ließ der Jongleur eine der Glaskugeln fallen. Sie zer-
schellte mit lautem Geklirr auf dem Fliesenboden des
großen östlichen Thronsaals. Die Königinwitwe sog, als
sie es hörte, heftig die Luft ein. Und dabei verschluckte
sie sich an der Zitronenscheibe und erstickte jämmerlich.
Vier Tage später fand Rolands Krönung auf dem Platz
der Nadel statt. Der Jongleur konnte sie nicht mehr mit-
erleben; er war drei Tage zuvor an der Hinrichtungsstätte
hinter der Nadel geköpft worden.
Ein König ohne Erben macht alle nervös, ganz beson-
ders, wenn dieser König schon fünfzig und bereits kahl-
köpfig ist. Daher lag es in Rolands Interesse, schnellst-
möglich zu heiraten und schnellstmöglich einen Sohn zu
zeugen. Sein engster Ratgeber Flagg führte ihm dies im-
mer wieder vor Augen. Er wies ihn auch darauf hin, daß
er mit fünfzig nur noch auf wenige Jahre hoffen durfte,
in denen er ein Kind im Leibe einer Frau erschaffen
konnte. Flagg riet ihm, bald eine Frau zu ehelichen und
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besser nicht auf eine Dame von edlem Geblüt zu warten,
welche seinen Ansprüchen genügte. Wenn eine solche
Dame nicht aufgetaucht war, wenn ein Mann die Fünfzig
erreicht hatte, so würde sie wahrscheinlich niemals kom-
men, führte Flagg aus.
Roland sah die Weisheit dessen ein und stimmte zu,
ohne zu ahnen, daß Flagg mit seinem langen Haar und
dem weißen Gesicht, das fast immer unter einer Kapuze
verborgen war, sein innerstes Geheimnis kannte; daß er
nur deswegen nie eine Frau kennengelernt hatte, die sei-
nen Ansprüchen genügte, weil er sich eigentlich aus kei-
ner Frau etwas machte. Frauen machten ihm Angst. Und
er hatte auch den Vorgang nie gemocht, der Babys in die
Leiber von Frauen bringt. Auch dieser Akt machte ihm
Angst.
Aber er sah ein, wie klug der Rat des Hofzauberers
war, und sechs Monate nach dem Begräbnis der Königin-
witwe gab es im Königreich ein ungleich fröhlicheres Er-
eignis zu feiern — die Vermählung von König Roland mit
Sasha, die die Mutter von Peter und Thomas werden
sollte.
Roland wurde in Delain weder geliebt noch gehaßt.
Sasha hingegen wurde von allen geliebt. Als sie bei der
Geburt ihres zweiten Sohnes starb, legte sich auf das Kö-
nigreich tiefste Trauer, die ein Jahr und einen Tag dauer-
te. Sie war eine von sechs Frauen, die Flagg als mögliche
Bräute des Königs vorgeschlagen hatte. Roland kannte
keine dieser Frauen, die alle von ähnlicher Geburt und
Stellung waren. Sie waren alle von adliger, aber keine
von königlichem Geblüt; alle waren schüchtern und
freundlich und still. Flagg schlug wohlweislich keine vor,
die ihm seine Stellung als engster Vertrauter des Königs
streitig machen konnte. Roland entschied sich für Sasha,
weil sie die stillste und schüchternste des halben Dut-
zends zu sein schien und damit am wenigsten geeignet,
ihm Angst zu machen. Also heirateten sie. Sasha vom
Westlichen Baronat (wirklich einem sehr kleinen Baro-
nat) war damals siebzehn Jahre alt, dreiunddreißig Jahre
jünger als ihr Gemahl. Vor ihrer Hochzeitsnacht hatte sie
noch niemals einen Mann ohne Hosen gesehen. Als sie
in eben dieser Nacht seinen schlaffen Penis erblickte,
fragte sie mit großem Interesse: »Was ist denn das, mein
Gemahl?« Hätte sie etwas anderes gesagt, oder hätte sie
es in einem etwas anderen Tonfall gesagt, so hätte die
Nacht - und somit die ganze Geschichte - einen völlig
anderen Verlauf nehmen können; trotz des speziellen
Trunks, welchen Flagg ihm vor einer Stunde gegeben
hatte, als das Hochzeitsfest sich dem Ende näherte, hätte
Roland vor Angst buchstäblich zurückschrecken können.
Aber so sah er genau das in ihr, was sie war — ein sehr
junges Mädchen, das ebensowenig vom Akt des Kinder-
zeugens wußte wie er —; er merkte, daß ihre Worte
freundlich gemeint waren, und er begann, sie zu lieben,
wie bald alle in Delain sie lieben sollten.
»Das ist Königseisen«, sagte er.
»Sieht nicht wie Eisen aus«, meinte Sasha zweifelnd.
»Das ist, bevor es in der Schmiede war«, sagte er.
»Aha!« sagte sie. »Und wo ist die Schmiede?«
»Wenn du mir vertraust«, sagte er und stieg zu ihr ins
Bett, »dann werde ich es dir zeigen, denn du selbst hast
sie vom Westlichen Baronat mitgebracht, ohne es zu wis-
sen.«
Das Volk von Delain liebte sie, weil sie freundlich und
gütig war. Es war Königin Sasha, die das Große Hospital
gründete, Königin Sasha, die so bitterlich über die Grau-
samkeit der Bärenhatz auf dem großen Platz weinte, daß
Roland schließlich den Brauch verbot; es war Königin
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