Grillparzer - Der arme Spielmann.pdf

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Franz Grillparzer
Der arme Spielmann
Erzählung (1847)
In Wien ist der Sonntag nach dem Vollmonde im Monat Juli jedes Jahres samt dem darauffolgenden
Tage ein eigentliches Volksfest, wenn je ein Fest diesen Namen verdient hat. Das Volk besucht es
und gibt es selbst; und wenn Vornehmere dabei erscheinen, so können sie es nur in ihrer Eigenschaft
als Glieder des Volks. Da ist keine Möglichkeit der Absonderung; wenigstens vor einigen Jahren
noch war keine.
An diesem Tage feiert die mit dem Augarten, der Leopoldstadt, dem Prater in ununterbrochener
Lustreihe zusammenhängende Brigittenau ihre Kirchweihe. Von Brigittenkirchtag zu
Brigittenkirchtag zählt seine guten Tage das arbeitende Volk. Lange erwartet, erscheint endlich das
saturnalische Fest. Da entsteht Aufruhr in der gutmütig ruhigen Stadt. Eine wogende Menge erfüllt
die Straßen. Geräusch von Fußtritten, Gemurmel von Sprechenden, das hie und da ein lauter Ausruf
durchzuckt. Der Unterschied der Stände ist verschwunden; Bürger und Soldat teilt die Bewegung.
An den Toren der Stadt wächst der Drang. Genommen, verloren und wiedergenommen, ist endlich
der Ausgang erkämpft. Aber die Donaubrücke bietet neue Schwierigkeiten. Auch hier siegreich,
ziehen endlich zwei Ströme, die alte Donau und die geschwollnere Woge des Volks, sich kreuzend
quer unter- und übereinander, die Donau ihrem alten Flußbette nach, der Strom des Volkes, der
Eindämmung der Brücke entnommen, ein weiter, tosender See, sich ergießend in alles deckender
Überschwemmung. Ein neu Hinzugekommener fände die Zeichen bedenklich. Es ist aber der
Aufruhr der Freude, die Losgebundenheit der Lust.
Schon zwischen Stadt und Brücke haben sich Korbwagen aufgestellt für die eigentlichen
Hierophanten dieses Weihfestes: die Kinder der Dienstbarkeit und der Arbeit. Überfüllt und
dennoch im Galopp durchfliegen sie die Menschenmasse, die sich hart vor ihnen öffnet und hinter
ihnen schließt, unbesorgt und unverletzt. Denn es ist in Wien ein stillschweigender Bund zwischen
Wagen und Menschen: nicht zu überfahren, selbst im vollen Lauf; und nicht überfahren zu werden,
auch ohne alle Aufmerksamkeit.
Von Sekunde zu Sekunde wird der Abstand zwischen Wagen und Wagen kleiner. Schon mischen
sich einzelne Equipagen der Vornehmeren in den oft unterbrochenen Zug. Die Wagen fliegen nicht
mehr. Bis endlich fünf bis sechs Stunden vor Nacht die einzelnen Pferde- und Kutschen-Atome sich
zu einer kompakten Reihe verdichten, die, sich selber hemmend und durch Zufahrende aus allen
Quergassen gehemmt, das alte Sprichwort »Besser schlecht gefahren, als zu Fuße gegangen«
offenbar zuschanden macht. Begafft, bedauert, bespottet, sitzen die geputzten Damen in den
scheinbar stillestehenden Kutschen. Des immerwährenden Anhaltens ungewohnt, bäumt sich der
Holsteiner Rappe, als wollte er seinen durch den ihm vorgehenden Korbwagen gehemmten Weg
obenhin über diesen hinaus nehmen, was auch die schreiende Weiber- und Kinderbevölkerung des
Plebejer-Fuhrwerks offenbar zu befürchten scheint. Der schnell dahinschießende Fiaker, zum ersten
Male seiner Natur ungetreu, berechnet ingrimmig den Verlust, auf einem Wege drei Stunden
zubringen zu müssen, den er sonst in fünf Minuten durchflog. Zank, Geschrei, wechselseitige
Ehrenangriffe der Kutscher, mitunter ein Peitschenhieb.
Endlich, wie denn in dieser Welt jedes noch so hartnäckige Stehenbleiben doch nur ein
unvermerktes Weiterrücken ist, erscheint auch diesem status quo ein Hoffnungsstrahl. Die ersten
Bäume des Augartens und der Brigittenau werden sichtbar. Land! Land! Land! Alle Leiden sind
vergessen. Die zu Wagen Gekommenen steigen aus und mischen sich unter die Fußgänger, Töne
entfernter Tanzmusik schallen herüber, vom Jubel der neu Ankommenden beantwortet. Und so fort
und immer weiter, bis endlich der breite Hafen der Lust sich auftut und Wald und Wiese, Musik und
Tanz, Wein und Schmaus, Schattenspiel und Seiltänzer, Erleuchtung und Feuerwerk sich zu einem
pays de cocagne, einem Eldorado, einem eigentlichen Schlaraffenlande vereinigen, das leider, oder
glücklicherweise, wie man es nimmt, nur einen und den nächst darauffolgenden Tag dauert, dann
aber verschwindet, wie der Traum einer Sommernacht, und nur in der Erinnerung zurückbleibt und
allenfalls in der Hoffnung.
Ich versäume nicht leicht, diesem Feste beizuwohnen. Als ein leidenschaftlicher Liebhaber der
Menschen, vorzüglich des Volkes, so daß mir selbst als dramatischem Dichter der rückhaltslose
Ausbruch eines überfüllten Schauspielhauses immer zehnmal interessanter, ja belehrender war als
das zusammengeklügelte Urteil eines an Leib und Seele verkrüppelten, von dem Blut ausgezogener
Autoren spinnenartig aufgeschwollenen literarischen Matadors; als ein Liebhaber der Menschen,
sage ich, besonders wenn sie in Massen für einige Zeit der einzelnen Zwecke vergessen und sich als
Teile des Ganzen fühlen, in dem denn doch zuletzt das Göttliche liegt - als einem solchen ist mir
jedes Volksfest ein eigentliches Seelenfest, eine Wallfahrt, eine Andacht. Wie aus einem
aufgerollten, ungeheuren, dem Rahmen des Buches entsprungenen Plutarch lese ich aus den heitern
und heimlich bekümmerten Gesichtern, dem lebhaften oder gedrückten Gange, dem wechselseitigen
Benehmen der Familienglieder, den einzelnen halb unwillkürlichen Äußerungen mir die
Biographien der unberühmten Menschen zusammen, und wahrlich! man kann die Berühmten nicht
verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat. Von dem Wortwechsel weinerhitzter
Karrenschieber spinnt sich ein unsichtbarer, aber ununterbrochener Faden bis zum Zwist der
Göttersöhne, und in der jungen Magd, die, halb wider Willen, dem drängenden Liebhaber seitab
vom Gewühl der Tanzenden folgt, liegen als Embryo die Julien, die Didos und die Medeen.
Auch vor zwei Jahren hatte ich mich, wie gewöhnlich, den lustgierigen Kirchweihgästen als
Fußgänger mit angeschlossen. Schon waren die Hauptschwierigkeiten der Wanderung überwunden
und ich befand mich bereits am Ende des Augartens, die ersehnte Brigittenau hart vor mir liegend.
Hier ist nun noch ein, wenngleich der letzte Kampf zu bestehen. Ein schmaler Damm, zwischen
undurchdringlichen Befriedungen hindurchlaufend, bildet die einzige Verbindung der beiden
Lustorte, deren gemeinschaftliche Grenze ein in der Mitte befindliches hölzernes Gittertor
bezeichnet. An gewöhnlichen Tagen und für gewöhnliche Spaziergänger bietet dieser
Verbindungsweg überflüssigen Raum; am Kirchweihfeste aber würde seine Breite, auch vierfach
genommen, noch immer zu schmal sein für die endlose Menge, die, heftig nachdrängend und von
Rückkehrenden im entgegengesetzten Sinne durchkreuzt, nur durch die allseitige Gutmütigkeit der
Lustwandelnden sich am Ende doch leidlich zurechtfindet.
Ich hatte mich dem Zug der Menge hingegeben und befand mich in der Mitte des Dammes, bereits
auf klassischem Boden, nur leider zu stets erneutem Stillestehen, Ausbeugen und Abwarten
genötigt. Da war denn Zeit genug, das seitwärts am Wege Befindliche zu betrachten. Damit es
nämlich der genußlechzenden Menge nicht an einem Vorschmack der zu erwartenden Seligkeit
mangle, hatten sich links am Abhang der erhöhten Dammstraße einzelne Musiker aufgestellt, die,
wahrscheinlich die große Konkurrenz scheuend, hier an den Propyläen die Erstlinge der noch
unabgenützten Freigebigkeit einernten wollten. Eine Harfenspielerin mit widerlich starrenden
Augen. Ein alter invalider Stelzfuß, der auf einem entsetzlichen, offenbar von ihm selbst
verfertigten Instrumente, halb Hackbrett und halb Drehorgel, die Schmerzen seiner Verwundung
dem allgemeinen Mitleid auf eine analoge Weise empfindbar machen wollte. Ein lahmer,
verwachsener Knabe, er und seine Violine einen einzigen ununterscheidbaren Knäuel bildend, der
endlos fortrollende Walzer mit all der hektischen Heftigkeit seiner verbildeten Brust herabspielte.
Endlich - und er zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich - ein alter, leicht siebzigjähriger Mann
in einem fadenscheinigen, aber nicht unreinlichen Molltonüberrock mit lächelnder, sich selbst
Beifall gebender Miene. Barhäuptig und kahlköpfig stand er da, nach Art dieser Leute, den Hut als
Sammelbüchse vor sich auf dem Boden, und so bearbeitete er eine alte vielzersprungene Violine,
wobei er den Takt nicht nur durch Aufheben und Niedersetzen des Fußes, sondern zugleich durch
übereinstimmende Bewegung des ganzen gebückten Körpers markierte. Aber all diese Bemühung,
Einheit in seine Leistung zu bringen, war fruchtlos, denn was er spielte, schien eine
unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie. Dabei war er ganz in sein
Werk vertieft: die Lippen zuckten, die Augen waren starr auf das vor ihm befindliche Notenblatt
gerichtet ja wahrhaftig Notenblatt! Denn indes alle andern, ungleich mehr zu Dank spielenden
Musiker sich auf ihr Gedächtnis verließen, hatte der alte Mann mitten in dem Gewühle ein kleines,
leicht tragbares Pult vor sich hingestellt mit schmutzigen, zergriffenen Noten, die das in schönster
Ordnung enthalten mochten, was er so außer allem Zusammenhange zu hören gab. Gerade das
Ungewöhnliche dieser Ausrüstung hatte meine Aufmerksamkeit auf ihn gezogen, so wie es auch die
Heiterkeit des vorüberwogenden Haufens erregte, der ihn auslachte und den zum Sammeln
hingestellten Hut des alten Mannes leer ließ, indes das übrige Orchester ganze Kupferminen
einsackte. Ich war, um das Original ungestört zu betrachten, in einiger Entfernung auf den
Seitenabhang des Dammes getreten. Er spielte noch eine Weile fort. Endlich hielt er ein, blickte,
wie aus einer langen Abwesenheit zu sich gekommen, nach dem Firmament, das schon die Spuren
des nahenden Abends zu zeigen anfing, darauf abwärts in seinen Hut, fand ihn leer, setzte ihn mit
ungetrübter Heiterkeit auf, steckte den Geigenbogen zwischen die Saiten; »Sunt certi denique
fines«, sagte er, ergriff sein Notenpult und arbeitete sich mühsam durch die dem Feste zuströmende
Menge in entgegengesetzter Richtung, als einer, der heimkehrt.
Das ganze Wesen des alten Mannes war eigentlich wie gemacht, um meinen anthropologischen
Heißhunger aufs äußerste zu reizen. Die dürftige und doch edle Gestalt, seine unbesiegbare
Heiterkeit, so viel Kunsteifer bei so viel Unbeholfenheit; daß er gerade zu einer Zeit heimkehrte, wo
für andere seinesgleichen erst die eigentliche Ernte anging; endlich die wenigen, aber mit der
richtigsten Betonung, mit völliger Geläufigkeit gesprochenen lateinischen Worte. Der Mann hatte
also eine sorgfältigere Erziehung genossen, sich Kenntnisse eigen gemacht, und nun - ein
Bettelmusikant! Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhange.
Aber schon befand sich ein dichter Menschenwall zwischen mir und ihm. Klein, wie er war, und
durch das Notenpult in seiner Hand nach allen Seiten hin störend, schob ihn einer dem andern zu,
und schon hatte ihn das Ausgangsgitter aufgenommen, indes ich noch in der Mitte des Dammes mit
der entgegenströmenden Menschenwoge kämpfte. So entschwand er mir, und als ich endlich selbst
ins ruhige Freie gelangte, war nach allen Seiten weit und breit kein Spielmann mehr zu sehen.
Das verfehlte Abenteuer hatte mir die Lust an dem Volksfest genommen. Ich durchstrich den
Augarten nach allen Richtungen und beschloß endlich, nach Hause zu kehren.
In die Nähe des kleinen Türchens gekommen, das aus dem Augarten nach der Taborstraße führt,
hörte ich plötzlich den bekannten Ton der alten Violine wieder. Ich verdoppelte meine Schritte, und
siehe da! der Gegenstand meiner Neugier stand, aus Leibeskräften spielend, im Kreise einiger
Knaben, die ungeduldig einen Walzer von ihm verlangten. »Einen Walzer spiel!« riefen sie; »einen
Walzer, hörst du nicht?« Der Alte geigte fort, scheinbar ohne auf sie zu achten, bis ihn die kleine
Zuhörerschar schmähend und spottend verließ, sich um einen Leiermann sammelnd, der seine
Drehorgel in der Nähe aufgestellt hatte.
»Sie wollen nicht tanzen«, sagte wie betrübt der alte Mann, sein Musikgeräte zusammenlegend. Ich
war ganz nahe zu ihm getreten. »Die Kinder kennen eben keinen andern Tanz als den Walzer«,
sagte ich. »Ich spielte einen Walzer«, versetzte er, mit dem Geigenbogen den Ort des soeben
gespielten Stückes auf seinem Notenblatte bezeichnend.
»Man muß derlei auch führen, der Menge wegen. Aber die Kinder haben kein Ohr«, sagte er, indem
er wehmütig den Kopf schüttelte. - »Lassen Sie mich wenigstens ihren Undank wieder gutmachen«,
sprach ich, ein Silberstück aus der Tasche ziehend und ihm hinreichend. - »Bitte! bitte!« rief der alte
Mann, wobei er mit beiden Händen ängstlich abwehrende Bewegungen machte, »in den Hut! in den
Hut!« - Ich legte das Geldstück in den vor ihm stehenden Hut, aus dem es unmittelbar darauf der
Alte herausnahm und ganz zufrieden einsteckte, »das heißt einmal mit reichem Gewinn nach Hause
gehen«, sagte er schmunzelnd. - »Eben recht«, sprach ich, »erinnern Sie mich auf einen Umstand,
der schon früher meine Neugier rege machte! Ihre heutige Einnahme scheint nicht die beste
gewesen zu sein, und doch entfernen Sie sich in einem Augenblicke, wo eben die eigentliche Ernte
angeht. Das Fest dauert, wissen Sie wohl, die ganze Nacht, und Sie könnten da leicht mehr
gewinnen als an acht gewöhnlichen Tagen. Wie soll ich mir das erklären?«
»Wie Sie sich das erklären sollen«, versetzte der Alte. »Verzeihen Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind,
aber Sie müssen ein wohltätiger Herr sein und ein Freund der Musik«, dabei zog er das Silberstück
noch einmal aus der Tasche und drückte es zwischen seine gegen die Brust gehobenen Hände. »Ich
will Ihnen daher nur die Ursachen angeben, obgleich ich oft deshalb verlacht worden bin. Erstens
war ich nie ein Nachtschwärmer und halte es auch nicht für recht, andere durch Spiel und Gesang
zu einem solchen widerlichen Vergehen anzureizen; zweitens muß sich der Mensch in allen Dingen
eine gewisse Ordnung festsetzen, sonst gerät er ins Wilde und Unaufhaltsame. Drittens endlich -
Herr! ich spiele den ganzen Tag für die lärmenden Leute und gewinne kaum kärglich Brot dabei;
aber der Abend gehört mir und meiner armen Kunst.
Abends halte ich mich zu Hause, und« - dabei ward seine Rede immer leiser, Röte überzog sein
Gesicht, sein Auge suchte den Boden - »da spiele ich denn aus der Einbildung, so für mich ohne
Noten. Phantasieren, glaub ich, heißt es in den Musikbüchern.«
Wir waren beide ganz stille geworden. Er, aus Beschämung über das verratene Geheimnis seines
Innern; ich, voll Erstaunen, den Mann von den höchsten Stufen der Kunst sprechen zu hören, der
nicht imstande war, den leichtesten Walzer faßbar wiederzugeben. Er bereitete sich indes zum
Fortgehen. »Wo wohnen Sie?« sagte ich. »Ich möchte wohl einmal Ihren einsamen Übungen
beiwohnen.« - »Oh«, versetzte er fast flehend, »Sie wissen wohl, das Gebet gehört ins
Kämmerlein.« - »So will ich Sie denn einmal am Tage besuchen«, sagte ich. - »Den Tag über«,
erwiderte er, »gehe ich meinem Unterhalt bei den Leuten nach.« - »Also des Morgens denn.« -
»Sieht es doch beinahe aus«, sagte der Alte lächelnd, »als ob Sie, verehrter Herr, der Beschenkte
wären und ich, wenn es mir erlaubt ist zu sagen, der Wohltäter; so freundlich sind Sie, und so
widerwärtig ziehe ich mich zurück. Ihr vornehmer Besuch wird meiner Wohnung immer eine Ehre
sein; nur bäte ich, daß Sie den Tag Ihrer Dahinkunft mir großgünstig im voraus bestimmten, damit
weder Sie durch Ungehörigkeit aufgehalten, noch ich genötigt werde, ein zur Zeit etwa begonnenes
Geschäft unziemlich zu unterbrechen. Mein Morgen nämlich hat auch seine Bestimmung. Ich halte
es jedenfalls für meine Pflicht, meinen Gönnern und Wohltätern für ihr Geschenk eine nicht ganz
unwürdige Gegengabe darzureichen. Ich will kein Bettler sein, verehrter Herr. Ich weiß wohl, daß
die übrigen öffentlichen Musikleute sich damit begnügen, einige auswendig gelernte Gassenhauer,
Deutschwalzer, ja wohl gar Melodien von unartigen Liedern, immer wieder von denselben
anfangend, fort und fort herabzuspielen, so daß man ihnen gibt, um ihrer loszuwerden, oder weil ihr
Spiel die Erinnerung genossener Tanzfreuden oder sonst unordentlicher Ergötzlichkeiten wieder
lebendig macht. Daher spielen sie auch aus dem Gedächtnis und greifen falsch mitunter, ja häufig.
Von mir aber sei fern zu betrügen. Ich habe deshalb, teils weil mein Gedächtnis überhaupt nicht das
beste ist, teils weil es für jeden schwierig sein dürfte, verwickelte Zusammensetzungen geachteter
Musikverfasser Note für Note bei sich zu behalten, diese Hefte mir selbst ins reine geschrieben.« Er
zeigte dabei durchblätternd auf sein Musikbuch, in dem ich zu meinem Entsetzen mit sorgfältiger,
aber widerlich steifer Schrift ungeheuer schwierige Kompositionen alter berühmter Meister, ganz
schwarz von Passagen und Doppelgriffen, erblickte. Und derlei spielte der alte Mann mit seinen
ungelenken Fingern! »Indem ich nun diese Stücke spiele«, fuhr er fort, »bezeige ich meine
Verehrung den nach Stand und Würden geachteten, längst nicht mehr lebenden Meistern und
Verfassern, tue mir selbst genug und lebe der angenehmen Hoffnung, daß die mir mildest gereichte
Gabe nicht ohne Entgelt bleibt durch Veredlung des Geschmackes und Herzens der ohnehin von so
vielen Seiten gestörten und irregeleiteten Zuhörerschaft. Da derlei aber, auf daß ich bei meiner Rede
bleibe« - und dabei überzog ein selbstgefälliges Lächeln seine Züge -, »da derlei aber eingeübt sein
will, sind meine Morgenstunden ausschließend diesem Exercitium bestimmt. Die drei ersten
Stunden des Tages der Übung, die Mitte dem Broterwerb, und der Abend mir und dem lieben Gott,
das heißt nicht unehrlich geteilt«, sagt er, und dabei glänzten seine Augen wie feucht; er lächelte
aber.
»Gut denn« , sagte ich, »so werde ich Sie einmal morgens überraschen. Wo wohnen Sie?« Er nannte
mir die Gärtnergasse. - »Hausnummer?« - »Nummer 34 im ersten Stocke.« - »In der Tat«, rief ich,
»im Stockwerke der Vornehmen?« - »Das Haus«, sagte er, »hat zwar eigentlich nur ein Erdgeschoß;
es ist aber oben neben der Bodenkammer noch ein kleines Zimmer, das bewohne ich
gemeinschaftlich mit zwei Handwerksgesellen.« - »Ein Zimmer zu dreien?« - »Es ist abgeteilt«,
sagte er, »und ich habe mein eigenes Bette.«
»Es wird spät« sprach ich, »und Sie wollen nach Hause. Auf Wiedersehen denn!« und dabei fuhr ich
in die Tasche, um das früher gereichte gar zu kleine Geldgeschenk allenfalls zu verdoppeln. Er aber
hatte mit der einen Hand das Notenpult, mit der andern seine Violine angefaßt und rief hastig: »Was
ich devotest verbitten muß. Das Honorarium für mein Spiel ist mir bereits in Fülle zuteil geworden,
eines andern Verdienstes aber bin ich mir zur Zeit nicht bewußt.« Dabei machte er mir mit einer
Abart vornehmer Leichtigkeit einen ziemlich linkischen Kratzfuß und entfernte sich, so schnell ihn
seine alten Beine trugen.
Ich hatte, wie gesagt, die Lust verloren, dem Volksfeste für diesen Tag länger beizuwohnen, ich
ging daher heimwärts, den Weg nach der Leopoldstadt einschlagend, und, von Staub und Hitze
erschöpft, trat ich in einen der dortigen vielen Wirtsgärten, die, an gewöhnlichen Tagen überfüllt,
heute ihre ganze Kundschaft der Brigittenau abgegeben hatten. Die Stille des Ortes, im Abstich der
lärmenden Volksmenge, tat mir wohl, und mich verschiedenen Gedanken überlassend, an denen der
alte Spielmann nicht den letzten Anteil hatte, war es völlig Nacht geworden, als ich endlich des
Nachhausegehens gedachte, den Betrag meiner Rechnung auf den Tisch legte und der Stadt
zuschritt.
In der Gärtnergasse, hatte der alte Mann gesagt, wohne er. »Ist hier in der Nähe eine Gärtnergasse?«
fragte ich einen kleinen Jungen, der über den Weg lief. »Dort, Herr!« versetzte er, indem er auf eine
Querstraße hinwies, die, von der Häusermasse der Vorstadt sich entfernend, gegen das freie Feld
hinaus lief. Ich folgte der Richtung. Die Straße bestand aus zerstreuten einzelnen Häusern, die,
zwischen großen Küchengärten gelegen, die Beschäftigung der Bewohner und den Ursprung des
Namens Gärtnergasse augenfällig darlegten. In welcher dieser elenden Hütten wohl mein Original
wohnen mochte? Ich hatte die Hausnummer glücklich vergessen, auch war in der Dunkelheit an das
Erkennen irgendeiner Bezeichnung kaum zu denken. Da schritt, auf mich zukommend, ein mit
Küchengewächsen schwer beladener Mann an mir vorüber. »Kratzt der Alte einmal wieder«,
brummte er, »und stört die ordentlichen Leute in ihrer Nachtruhe.« Zugleich, wie ich vorwärtsging,
schlug der leise, langgehaltene Ton einer Violine an mein Ohr, der aus dem offenstehenden
Bodenfenster eines wenig entfernten ärmlichen Hauses zu kommen schien, das, niedrig und ohne
Stockwerk wie die übrigen, sich durch dieses in der Umgrenzung des Daches liegende Giebelfenster
vor den andern auszeichnete. Ich stand stille. Ein leiser, aber bestimmt gegriffener Ton schwoll bis
zur Heftigkeit, senkte sich, verklang, um gleich darauf wieder bis zum lautesten Gellen
emporzusteigen, und zwar immer derselbe Ton, mit einer Art genußreichem Daraufberuhen
wiederholt. Endlich kam ein Intervall. Es war die Quarte. Hatte der Spieler sich vorher an dem
Klange des einzelnen Tones geweidet, so war nun das gleichsam wollüstige Schmecken dieses
harmonischen Verhältnisses noch ungleich fühlbarer. Sprungweise gegriffen, zugleich gestrichen,
durch die dazwischenliegende Stufenreihe höchst holperig verbunden, die Terz markiert,
wiederholt. Die Quinte darangefügt, einmal mit zitterndem Klang wie ein stilles Weinen,
ausgehalten, verhallend, dann in wirbelnder Schnelligkeit ewig wiederholt, immer dieselben
Verhältnisse, die nämlichen Töne. - Und das nannte der alte Mann Phantasieren! - Obgleich es im
Grunde allerdings ein Phantasieren war, für den Spieler nämlich, nur nicht auch für den Hörer.
Ich weiß nicht, wie lange das gedauert haben mochte und wie arg es geworden war, als plötzlich die
Türe des Hauses aufging, ein Mann, nur mit dem Hemde und lose eingeknöpftem Beinkleide
angetan, von der Schwelle bis in die Mitte der Straße trat und zu dem Giebelfenster emporrief:
»Soll das heute einmal wieder gar kein Ende nehmen?« Der Ton der Stimme war dabei unwillig,
aber nicht hart oder beleidigend. Die Violine verstummte, ehe die Rede noch zu Ende war. Der
Mann ging ins Haus zurück, das Giebelfenster schloß sich, und bald herrschte eine durch nichts
unterbrochene Totenstille um mich her. Ich trat, mühsam in den mir unbekannten Gassen mich
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