(ebook - german) Aquin, Thomas von - Das Seiende und das Wesen.pdf

(107 KB) Pobierz
aquin.pdf
Thomas von Aquin
Das Seiende und das Wesen
(De ente et essentia)
Thomas von Aquin: Das Seiende und das Wesen
2
Einleitung
Weil ein kleiner Irrtum am Anfang am Ende ein
großer ist nach dem Philosophen im 1. Buch von
»Der Himmel und die Erde«, Seiendes und Wesen
aber die sind, die zuerst von der Vernunft erfaßt wer-
den, wie Avicenna am Anfang seiner »Metaphysik«
sagt, muß man daher, damit nicht aus der Unkenntnis
jener ein Fehler entsteht, zur Behebung der von ihnen
ausgehenden Schwierigkeit sagen, was mit dem Wort
»Wesen« und »Seiendes« bezeichnet wird und wie
Wesen in verschiedenen Dingen vorgefunden wird
und wie es sich zu den logischen Begriffen, nämlich
Gattung, Art und Unterschied verhält.
Weil wir aber die Erkenntnis des Einfachen aus
dem Zusammengesetzten gewinnen und vom Späteren
zum Früheren gelangen müssen, muß man daher,
damit das Verfahren, wenn wir mit dem Leichteren
beginnen, angemessener wird, von der Bedeutung des
Seienden zu der Bedeutung des Wesens fortschreiten.
Thomas von Aquin: Das Seiende und das Wesen
3
Kapitel 1
Man muß nun wissen, daß, wie der Philosoph im 5.
Buch der »Metaphysik« sagt, das Seiende als solches
auf zweifache Weise ausgesagt wird: auf eine Weise
so, daß es in zehn Kategorien eingeteilt wird, auf eine
andere Weise so, daß es die Wahrheit der Aussagen
bezeichnet. Der Unterschied dazwischen aber ist, daß
auf die zweite Weise all jenes, worüber eine beja-
hende Aussage gebildet werden kann, Seiendes ge-
nannt werden kann, auch wenn jenes nichts in der
Wirklichkeit meint; auf diese Weise werden Ermange-
lungen und negative Bestimmungen Seiendes ge-
nannt: wir sagen nämlich, daß die Bejahung der Ver-
neinung entgegengesetzt »ist« und daß die Blindheit
im Auge »ist«. Aber auf die erste Weise kann nur das,
was etwas in der Wirklichkeit meint. Seiendes ge-
nannt werden. Daher sind Blindheit und dergleichen
kein Seiendes auf die erste Weise.
Das Wort »Wesen« nun wird nicht von dem auf die
zweite Weise ausgesagten Seienden hergenommen,
auf diese Weise wird nämlich manches, was kein
Wesen hat, Seiendes genannt, wie im Falle der Er-
mangelungen offenbar ist, sondern Wesen wird von
dem auf die erste Weise ausgesagten Seienden herge-
nommen. Daher sagt der Kommentator zu derselben
Thomas von Aquin: Das Seiende und das Wesen
4
Stelle, daß das auf die erste Weise ausgesagte Seiende
das ist, was das Wesen eines Dinges bezeichnet. Und
weil, wie gesagt, das auf die erste Weise ausgesagte
Seiende in zehn Kategorien eingeteilt wird, muß
Wesen für alle Naturen, aufgrund deren verschiedenes
Seiendes unter verschiedene Gattungen und Arten ge-
bracht wird, etwas Gemeinsames bezeichnen, so wie
Menschhaftigkeit das Wesen des Menschen ist, und
so hinsichtlich des übrigen.
Und weil jenes, aufgrund dessen ein Ding in seine
Gattung oder Art eingeordnet wird, das ist, was durch
die Definition, die angibt, was das Ding ist, bezeich-
net wird, daher kommt es, daß das Wort »Wesen«
von den Philosophen in das Wort »Washeit« umgeän-
dert wird. Und diese ist auch das, was der Philosoph
häufig nennt das - was war es? - Sein, das ist das, wo-
durch etwas Was-Sein hat. Wesen wird auch Form
genannt, insofern durch die Form die genaue Be-
stimmtheit eines jeden Dinges bezeichnet wird, wie
Avicenna im 2. Buch seiner »Metaphysik« sagt.
Wesen wird mit einem anderen Wort auch Natur ge-
nannt, Natur verstanden nach der ersten Weise jener
vier, die Boëthius in der Schrift »Die zwei Naturen«
angibt: danach wird nämlich all jenes Natur genannt,
was mit der Vernunft auf irgendeine Weise erfaßt
werden kann, kein Ding ist nämlich erkennbar außer
durch seine Definition und sein Wesen. Und so sagt
Thomas von Aquin: Das Seiende und das Wesen
5
auch der Philosoph im 5. Buch der »Metaphysik«,
daß jede Substanz eine Natur ist. Jedoch scheint das
Wort »Natur«, auf diese Weise verstanden, das
Wesen eines Dinges zu bezeichnen, insofern es (das
Wort »Natur«) sich auf die eigentümliche Tätigkeit
des Dinges bezieht, da kein Ding der eigentümlichen
Tätigkeit ermangelt. Das Wort »Washeit« aber wird
davon hergenommen, was durch die Definition be-
zeichnet wird. Aber Wesen heißt es, insofern durch es
und in ihm ein Seiendes Sein hat.
Aber weil Seiendes ohne Einschränkung und in er-
ster Linie von Substanzen, in zweiter Linie und
gleichsam in gewisser Hinsicht von Eigenschaften
ausgesagt wird, daher kommt es, daß auch Wesen im
eigentlichen Sinne und in Wahrheit in Substanzen ist,
aber in Eigenschaften in gewisser Weise und gewisser
Hinsicht ist. Von den Substanzen aber sind einige
einfach und einige zusammengesetzt, und in beiden ist
Wesen, aber in den einfachen in wahrerer und vorzüg-
licherer Weise, insofern sie auch vorzüglicheres Sein
haben: sie sind nämlich die Ursache dessen, was zu-
sammengesetzt ist, wenigstens die erste einfache Sub-
stanz, die Gott ist. Aber weil die Wesen jener (einfa-
chen) Substanzen für uns verborgener sind, daher
muß man mit den Wesen der zusammengesetzten
Substanzen beginnen, damit das Verfahren vom
Leichteren her angemessener wird.
Zgłoś jeśli naruszono regulamin