Brecht, Bertolt - Die Ausnahme und die Regel (Ein Lehrstück)---.pdf

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Die Ausnahme und die Regel
Lehrstück
D IE S PIELER :
Wir berichten euch sogleich
Die Geschichte einer Reise. Ein Ausbeuter
Und zwei Ausgebeutete unternehmen sie.
Betrachtet genau das Verhalten dieser Leute :
Findet es befremdend, wenn auch nicht fremd.
Unerklärlich, wenn auch gewöhnlich.
Unverständlich, wenn auch die Regel.
Selbst die kleinste Handlung, scheinbar einfach
Betrachtet mit Mißtrauen ! Untersucht, ob es nötig ist
Besonders das Übliche !
Wir bitten euch ausdrücklich, findet
Das immerfort Vorkommende nicht natürlich !
Denn nichts werde natürlich genannt
In solcher Zeit blutiger Verwirrung
Verordneter Unordnung, planmäßiger Willkür
Entmenschter Menschlichkeit, damit nichts
Unveränderlich gelte.
1
Wettlauf in der Wüste
Zwei kleine Trupps hasten in einigem Abstand durch die Wüste.
D ER K AUFMANN zu seinen zwei Begleitern, dem Führer und einem Kuli, der das Gepäck
trägt :
Beeilt euch, ihr Faultiere, heute über zwei Tage müssen wir bis zur Station Han ge-
kommen sein, denn wir müssen einen ganzen Tag Vorsprung herausquetschen. Zum
Publikum : Ich bin der Kaufmann Karl Langmann und reise nach Urga, um die
Schlußverhandlungen über eine Konzession zu führen. Hinter mir her kommen meine
Konkurrenten. Wer zuerst ankommt, macht das Geschäft. Durch meine Schlauheit und
meine Energie bei der Überwindung aller Schwierigkeiten und meine Unerbittlichkeit
gegen mein Personal habe ich die Reise bisher beinahe in der Hälfte der üblichen Zeit
gemacht. Leider haben auch meine Konkurrenten dasselbe Tempo erreicht. Er sieht
durch sein Fernglas nach hinten . Seht ihr, da sind sie uns schon wieder auf den Fer-
sen ! Zum Führer : Warum treibst du den Träger nicht an ? Ich habe dich engagiert,
damit du ihn antreibst, aber ihr wollt spazierengehen für mein Geld. Hast du eine Ah-
nung, was die Reise kostet ? Euer Geld ist es ja nicht. Aber wenn du Sabotage treibst,
zeige ich dich in Urga bei der Stellenvermittlung an.
D ER F ÜHRER zum Träger :
Bemühe dich, rascher zu laufen.
D ER K AUFMANN :
Du hast nicht den richtigen Ton im Hals, du wirst es nie zu einem richtigen Führer
bringen. Ich hätte einen teureren nehmen sollen. Sie holen immer mehr auf. So schlag
den Kerl doch. Ich bin nicht für Schlagen, aber jetzt muß man schlagen. Wenn ich
nicht zuerst ankomme, bin ich ruiniert. Du hast dir deinen Bruder als Träger geno m-
men, gesteh´s ! Er ist ein Verwandter, darum schlägst du nicht ! Ich kenne euch doch !
An Roheit fehlt es nicht bei euch ! Schlag, oder ich entlasse dich ! Deinen Lohn kannst
du dann einklagen. Um Gottes Willen, wir werden eingeholt !
D ER K ULI ZUM F ÜHRER :
Schlag mich, aber nicht mit deiner äußersten Kraft, denn wenn ich bis zur Station Han
kommen will, darf ich meine äußerste Kraft jetzt noch nicht einsetzen.
Der Führer schlägt den Kuli.
R UFE VON HINTEN :
Hallo ! Geht hier der Weg nach Urga ? Hier gut Freund ! Wartet auf uns !
D ER K AUFMANN antwortet nicht und schaut auch nicht zurück :
Der Teufel hole euch ! Vorwärts ! Drei Tage treibe ich meine Leute an, zwei Tage mit
Schimpfreden, am dritten mit Versprechungen, in Urga wird man weitersehen. Immer
sind mir meine Konkurrenten auf den Fersen, aber die zweite Nacht marschiere ich
durch und bin endlich außer Sichtweite und erreiche die Station Han am dritten Tage,
einen Tag früher als jeder andere. Er singt :
Daß ich nicht schlief, hat mir den Vorsprung verschafft.
Daß ich antrieb, hat mich vorwärtsgebracht.
Der schwache Mann bleibt zurück und der starke kommt an.
Ende der vielbegangenen Straße
D ER K AUFMANN vor der Station Han :
Hier ist die Station Han. Gott sei Dank, ich habe sie erreicht, einen Tag früher als jeder
andere. Meine Leute sind erschöpft. Außerdem sind sie erbittert gegen mich. Sie ha-
ben keinen Sinn für Rekorde. Es sind keine Kämpfer. Es ist ein niedriges Gesindel,
das am Boden klebt. Sie wagen natürlich nicht, etwas zu sagen, denn es gibt ja Gott sei
Dank noch Polizei, die für Ordnung sorgt.
Z WEI P OLIZISTEN treten heran :
Alles in Ordnung, Herr ? Sind sie zufrieden mit den Straßen ? Sind sie zufrieden mit
Ihrem Personal ?
D ER K AUFMANN :
Alles in Ordnung. Ich habe die Reise hierher in drei Tagen gemacht anstatt in vier. Die
Straßen sind saumäßig, aber ich pflege durchzusetzen, was ich mir vorgenommen ha-
be. Wie sind die Straßen von der Station Han ab ? Was kommt jetzt ?
D IE P OLIZISTEN :
Jetzt, Herr, kommt die menschenleere Wüste Jahi.
D ER K AUFMANN :
Kann man da eine Polizeieskorte bekommen ?
D IE P OLIZISTEN im Weitergehen :
Nein, Herr, wir sind die letzte Polizeistreife, die Sie sehen werden, Herr.
2
Die Entlassung des Führers auf der Station Han
D ER F ÜHRER :
Seit wir auf der Straße vor der Station mit den Polizisten gesprochen haben, ist mein
Kaufmann wie ausgewechselt. Sein Ton, in dem er mit uns spricht, ist ein ganz ande-
rer geworden : er ist freundlich. Mit dem Tempo der Reise hat dies nichts zu tun, denn
es ist auch auf dieser Station, der letzten vor der Wüste Jahi, kein Ruhetag angesetzt
worden. Ich weiß nicht, wie ich den Träger in so erschöpften Zustand bis nach Urga
bringen soll. Alles in allem beunruhigt mich diese freundliche Verhalten des Kauf-
manns sehr. Ich fürchte, er plant etwas mit uns. Er geht viel herum, in Nachdenken
versunken. Neue Gedanken, neue Gemeinheiten. Was immer er ausheckt, ich und der
Träger müssen es aushalten. Denn sonst zahlt er uns den Lohn nicht oder jagt uns fort
mitten in der Wüste.
D ER K AUFMANN nähert sich :
Nimm Tabak. Hier ist Zigarettenpapier. Für einen Lungenzug geht ihr ja durchs Feuer.
Ich weiß nicht, was ihr alles anstellen könntet, um diesen Rauch in den Hals zu be-
kommen. Gott sei Dank haben wir genügend bei uns. Unser Tabak reicht dreimal bis
Urga.
D ER F ÜHRER NIMMT DEN T ABAK , BEI SICH :
Unser Tabak !
D ER K AUFMANN :
Setzen wir uns doch, mein Freund ! Warum setzt du dich nicht ? Solch eine Reise
bringt zwei Leute einander menschlich näher. Aber wenn du nicht willst, kannst du na-
türlich auch stehenbleiben. Ihr habt ja auch eure Gebräuche. Ich setze mich nicht mit
dir für gewöhnlich und du setzt dich nicht mit einem Träger. Das sind Unterschiede,
auf denen die Welt aufgebaut ist. Aber rauchen können wir zusammen. Nein ? Er
lacht. Das gefällt mir an dir. Es ist auch eine Art Würde. Also, pack das Zeug vollends
zusammen. Und vergiß das Wasser nicht. Es soll wenig Wasserlöcher geben in der
Wüste. Übrigens, mein Freund, wollte ich dich warnen : hast du bemerkt, wie der Trä-
ger dich anschaute, wenn du ihn hart anfaßtest ? Er hatte so ein gewisses Etwas im
Blick, das auf nichts Gutes hindeutete. Du wirst ihn aber noch ganz anders anfassen
müssen in den nächsten Tagen, denn wir müssen unser Tempo womöglich noch ver-
stärken. Und das ist ein fauler Bursche. Die Gegend, in die wir jetzt kommen, ist me n-
schenleer, da wird er vielleicht sein wahres Gesicht zeigen. Ja, du bist ein besserer
Mann, du verdienst mehr und brauchst nichts zu tragen. Grund genug, daß er dich
haßt. Es wird gut sein, wenn du dich von ihm fernhältst. Der Führer geht durch eine
offene Tür in den Nebenhof. Der Kaufmann ist allein sitzengeblieben. Komische Le u-
te.
Der Kaufmann bleibt schweigend sitzen. Der Führer beaufsichtigt nebenan den Träger beim
Packen. Dann setzt er sich und raucht. Wenn der Kuli fertig ist, setzt er sich hin und bekommt
von ihm Tabak und Zigarettenpapier und beginnt ein Gespräch mit ihm.
D ER K ULI :
Der Kaufmann sagt immer, daß der Menschheit ein Dienst erwiesen wird, wenn das Öl
aus dem Boden geholt wird. Wenn das Öl aus dem Boden geholt ist, wird es hier Ei-
senbahnen geben und Wohlstand sich ausbreiten. Der Kaufmann sagt, es wird hier Ei-
senbahnen geben. Wovon soll ich dann leben ?
3
D ER F ÜHRER :
Sei ganz ruhig. Es wird so bald keine Eisenbahn geben. Ich höre, daß das Öl, wenn es
entdeckt ist, versteckt wird. Der das Loch zustopft, aus dem das Öl kommt, erhält
Schweigegeld. Darum beeilt sich der Kaufmann so. Er will gar nicht das Öl, er will
das Schweigegeld.
D ER K ULI :
Das verstehe ich nicht.
D ER F ÜHRER :
Keiner versteht das.
D ER K ULI :
Der Weg durch die Wüste wird wohl noch schlechter werden. Hoffentlich werden
meine Füße durchhalten.
D ER F ÜHRER :
Sicher.
D ER K ULI :
Gibt es Räuber hier ?
D ER F ÜHRER :
Wir werden nur heute am ersten Reisetag aufmerken müssen, in der Nähe der Station
sammelt sich allerlei Gesindel an.
D ER K ULI :
Und dann ?
D ER F ÜHRER :
Wenn wir den Fluß Myr hinter uns haben, wird es darauf ankommen, den Wasserlö-
chern entlangzumarschieren.
D ER K ULI :
Da kennst den Weg ?
D ER F ÜHRER :
Ja.
Der Kaufmann hat sprechen hören. Er tritt hinter die Tür, um zu horchen.
D ER K ULI :
Ist der Fluß Myr schwierig zu überschreiten ?
D ER F ÜHRER :
In dieser Jahreszeit im allgemeinen nicht. Aber wenn er Hochwasser hat, reißt er sehr
stark und ist lebensgefährlich.
D ER K AUFMANN :
Er spricht wirklich mit dem Träger. Bei ihm kann er sitzen ! Mit ihm raucht er !
D ER K ULI :
Was macht man dann ?
D ER F ÜHRER :
Man muß oft acht Tage warten, bis man ohne Gefahr hinüberkommt.
D ER K AUFMANN :
Sieh mal an ! Er gibt ihm noch den Rat, sich ja Zeit zu lassen und auf sein kostbares
Leben ja recht achtzugeben ! Das ist ein gefährlicher Bursche. Er wird ihm noch Vor-
schub leisten. Auf keinen Fall ist er der Mann, der hier durchgreift. Wenn er nicht
noch zu Schlimmerem fähig ist. Schließlich sind es ab heute zwei gegen einen, zumin-
dest aber fürchtet er sich ganz offenkundig, den unter seinem Kommando Stehenden
scharf anzupacken, jetzt, wo die Gegenden menschenleer werden. Dieses Burschen
muß ich mich unbedingt entledigen. Er geht zu den beiden hinein. Ich habe dir den
Auftrag gegeben, zu kontrollieren, ob richtig gepackt wurde. Jetzt wollen wir einmal
Zgłoś jeśli naruszono regulamin