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Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Ein paar Notizen zur „lustigen Figur“ im deutschen Sprachraum
Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Kasperlpuppe
© Regensburger Kasperlekongress 2002
In den meisten Nationen gibt es ihn seit Jahrhunderten: den Spaßmacher. Das ist
eine lustige Figur, die jeder sofort erkennt. Meist ist es ein einfacher Mann aus dem
Volk, der sich mit groben Witzen durchsetzt und nicht selten auch mit Hilfe seiner
Fäuste. Bei den Franzosen heißt die Figur „Guignol“, in der Türkei „Karagöz“, in
England „Punch“ und bei den Indern „Vidushaka“. Im deutschen Sprachraum war es
zuerst der „Hans Wurst“ und danach der „Kaspar“ oder „Kasperl“. In unseren vier
Beiträgen erfahren Sie mehr zum Thema.
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Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Hans Wurst hat Hunger und Durst
Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Am Anfang des 15. Jahrhunderts taucht in der
deutschsprachigen Literatur und im Volkstheater 1
eine Figur auf, die man ungefähr so beschreiben
kann: Es ist ein Bauer, er hat bunte Kleider an
und einen spitzen, grünen Hut auf, er spricht
Dialekt 2 , macht dauernd Unsinn und interessiert
sich vor allem für Essen, Trinken und schöne
Frauen. Sein Name: Hans Wurst.
Bei den einfachen Leuten ist Hans Wurst schnell
beliebt. Er ist „einer von ihnen“ und tut, was
viele gerne tun würden: er sagt, was er denkt.
Er unterbricht seinen Theatertext, spricht über
aktuelle Ereignisse und macht Witze darüber. Heute wäre das nichts Besonderes, aber
damals hatte der kleine Mann 3 keine Meinungsfreiheit und überhaupt wenig Rechte.
Genau aus diesem Grund kommt der Spaßmacher bei den Herrschenden 4 nicht so
gut an. In Wien, wo die Figur des Hans Wurst in der Volkskomödie am weitesten
entwickelt ist, kommt es im 18. Jahrhundert unter Kaiserin Maria Theresia sogar zu
einem „Hanswurststreit“. Die Zensurbehörde 5 wollte dem Publikumsliebling nämlich
das freie Sprechen, das sogenannte „Extemporieren“ verbieten.
1 das Volkstheater (meist nur Singular): Theater für die einfachen Leute, zunächst oft auf Wanderbühnen, die
von einem Ort zum nächsten zogen. Später gab es immer mehr feste Volkstheater in eigenen Theatergebäuden.
2
der Dialekt, -e : Die Art, wie eine Sprache in einer bestimmten Gegend gesprochen wird. Das Wienerische ist
zum Beispiel ein deutscher Dialekt, der in Wien gesprochen wird.
3
Der kleine Mann (nur Singular): Redewendung für „die einfachen Leute“, „das einfache Volk“.
4
die Herrschenden (in diesem Zusammenhang nur Plural): die Gruppe der entscheidenden Leute in Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft
5
die Zensur (hier nur Singular): staatliches Verbot, bestimmte Meinungen oder Gedanken zu veröffentlichen
Hans Wurst, Wien, 18. Jh.
aus:
http://deutsch.pi-noe.ac.at/inetsem/barock_v.htm
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Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Vom dummen Hans Wurst zum schlauen 6 Kaspar
Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Mit dem 18. Jahrhundert geht auch die
Zeit des Hans Wurst zu Ende. Er ist dem
Publikum inzwischen zu einfach, zu
bäuerlich, zu grob. Um 1770 entsteht in
Wien eine neue lustige Figur. Sie ist ähnlich
gekleidet wie der Hans Wurst und heißt
Kaspar, vielleicht nach dem Vorbild des
tschechischen Spaßmachers „Kasparek“.
Kaspar übernimmt einige wichtige
Eigenschaften von Hans Wurst. Auch er
redet, wie ihm der Schnabel 7 gewachsen
ist 8 . Auch er achtet darauf, dass er
immer genug zu essen und zu trinken
hat. Aber Kaspar ist intelligenter. Er ist
ein Gewinnertyp, der sich auf jeden Fall
durchsetzt, entweder mit guten Ideen
oder – wenn das nicht klappt – mit den
Fäusten.
Kasperltheater auf dem Jahrmarkt
Aquarell von Hermann Stockhausen
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschwindet aber auch Kaspar wieder von
der Volkstheaterbühne. Das Publikum will zwar weiter lustige Stücke sehen, aber die
Rollen sollen nun individueller und anspruchsvoller gestaltet sein. Gegen diesen
Trend helfen Kaspar weder Gewalt noch Verstand. Für ihn bleibt nur noch die
Puppenbühne, das „Kasperltheater“.
6
schlau : Man nennt jmd. „schlau“, wenn er seine Intelligenz immer so einsetzt, dass sie vor allem ihm selbst
Nutzen bringt.
7
der Schnabel, die Schnäbel : Ein Vogel hat einen Schnabel, ein Mensch einen Mund.
8
reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist (Redewendung): frei reden; sagen, was man möchte
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Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Vom brutalen Kasper zum netten Kasperle
Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Szene aus einem typischen aktuellen Kasperltheaterstück
aus: http://www.satteldorfer-kasper.de © Peter Widenmeyer
Im 19. Jahrhundert ist die „lustige Figur“ wieder dort angekommen, wo sie 400 Jahre
zuvor als „Hans Wurst“ gestartet war. Auf Jahrmärkten 9 bringen fahrende Puppenspieler
ihr Publikum mit dem Kasper zum Lachen. Die Zuschauer kommen vor allem aus den
untersten Bevölkerungsschichten. Das Niveau der Vorstellungen ist oft erschreckend
niedrig. Die Späße sind primitiv und es gibt viele brutale Szenen.
Aber ab der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt eine neue Entwicklung. In München
schenken der Schriftsteller Franz von Pocci und der Puppentheaterbesitzer Josef
Schmid der Kasperlfigur neues Leben. Ihre fantasievollen und lustigen Puppenstücke
werden vor allem von Kindern und Jugendlichen gerne gesehen.
Der Trend zum jungen Publikum geht zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter. Unter
der Leitung des Puppenspielers Max Jakob entsteht in Sachsen 10 der „Hohnsteiner Kasper“ 11 , die
Puppenfigur des Kasperls, wie man sie auch heute noch allgemein kennt. Statt des
spitzen Huts trägt sie jetzt eine Zipfelmütze und ihr Gesicht ist freundlicher. Aus dem
schlauen Kaspar ist das nette „Kasperle“ geworden, eine lustige Figur für die Allerkleinsten.
9 der Jahrmarkt, Jahrmärkte : Volksfeste, oft mit Karussells und anderen Attraktionen sowie mit einfacher
Gastronomie. Finden meist ein- oder mehrmals im Jahr für einige Tage statt. Früher in der Regel auf Marktplätzen
und in Verbindung mit einem großen Markt.
10 Sachsen : Früher ein Königreich, heute eines der deutschen Bundesländer. Sachsen liegt an der Grenze zu
Tschechien und Polen.
11 Hohnstein ist ein Ort im sächsischen Erzgebirge. Dort wurde die „Hohnsteiner Kasperfigur“ von Max Jakob
zusammen mit dem Holzschnitzer Theo Eggnitz entwickelt.
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Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Ist der Kasper tot?
Hanswurst, Kaspar, Kasperle
Das Leben in der modernen Gesellschaft ist
so kompliziert geworden und die Interessen
der Menschen sind so unterschiedlich, dass
ein Spaßmacher für alle schon lange nicht
mehr genügt. Wohl auch deshalb hat der
Kasper als typische lustige Figur keinen Platz
mehr in unserem Alltag.
Werbeplakat zu dem Film "Kehraus" mit
Gerhard Polt und Gisela Schneeberger
Im Fernsehen – dem „Kasperltheater der
Gegenwart“ – kämpfen heute viele
verschiedene Spaßmacher um die
Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer. Nicht
wenige von ihnen benützen dabei auch
Methoden, die schon Hans Wurst oder
Kasper verwendet haben. Sie sehen die Welt
aus der Perspektive des „kleinen Mannes“,
sie kennen kein Tabu und ihre Witze sind
oft laut, grob und plakativ.
Zu dieser Art von Komödianten gehören zum Beispiel Gerhard Polt und Gisela
Schneeberger, aber auch der Fernseh-Spaßmacher Harald Schmidt und eine Reihe
weiterer Komiker. Lebt der Kasper also doch noch? Vielleicht könnte man die Frage
so beantworten: Als „lustige Figur“ für das ganze Volk ist Kasper schon lange tot.
Seine Art, Späße zu machen, lebt aber weiter.
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