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Morbus Kitahara
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»Der Friede von Oranienburg« ist der Name für die Jahre und Jahrzehn-
te nach einem großen Krieg. Aber dieser Name bezeichnet keine Epoche
des Wiederaufbaus, sondern eine der Sühne, der Vergeltung und Rache.
Nach dem Willen der Sieger sollen die geschlagenen Feinde aus den
Ruinen ihrer Städte und Industrien zurückkehren auf die Rübenfelder
und Schafweiden eines vergangenen Jahrhunderts. Drei Menschen
begegnen sich in Moor, einem verwüsteten Kaff an einem See im Schat-
ten des Hochgebirges. Ambras, der »Hundekönig« und ehemaliger
Lagerhäftling, wird Jahre nach seiner Befreiung Verwalter jenes Stein-
bruchs, in dem er als Gefangener gelitten hat. Verhaßt und gefürchtet
haust er mit einem Rudel verwilderter Hunde im zerschlissenen Prunk
der Villa Flora. Lily, die »Brasilianerin«, die Grenzgängerin zwischen
den Besatzungszonen, die vom Frieden an der Küste des fernen Landes
träumt, lebt zurückgezogen in den Ruinen eines Strandbades. An man-
chen Tagen aber steigt sie ins Gebirge zu einem versteckten Waffenla-
ger aus dem Krieg, verwandelt sich dort in eine Scharfschützin und
macht Jagd auf ihre Feinde. Und Bering, der »Vogelmensch«, der
Schmied von Moor: Er verläßt sein Haus, einen wuchernden Eisengar-
ten, um zunächst Fahrer des Hundekönigs zu werden, dann aber dessen
bewaffneter, zum Äußersten entschlossener Leibwächter. Doch in
diesem zweiten Leben schlägt ihn ein Gebrechen, ein rätselhaftes Leiden
am Auge, dessen Namen er in einem Lazarett erfahren soll: Morbus
Kitahara , die allmähliche Verfinsterung des Blicks.
Christoph Ransmayr, 1954 in Wels/Oberösterreich geboren, studierte in
Wien und ist seit 1982 freier Schriftsteller. Er lebt zur Zeit in Dublin.
Weitere Buch Veröffentlichungen: ›Strahlender Untergang. Ein Entwäs-
serungsprojekt oder die Entdeckung des Wesentlichen‹ (1982), ›Im
blinden Winkel. Nachrichten aus Mitteleuropa‹ (Hrsg.. 1985; Fischer
Taschenbuch Bd. 9563), ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹
(1984; Fischer Taschenbuch Bd. 5419), ›Die letzte Welt‹ (1988; Fischer
Taschenbuch Bd. 9538) und ›Der Weg nach Surabaya‹ (1997; S. Fischer
Verlag).
Christoph Ransmayr
MORBUS KITAHARA
Roman
Non-profit scan by tigger, Juni 2003
Kein Verkauf!
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, Oktober 1997
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung
des S. Fischer Verlags GmbH, Frankfurt am Main
© 1995 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-596-13782-9
Für Fred Rotblatt
und in Erinnerung an meinen Vater
Karl Richard Ransmayr
1 Ein Feuer im Ozean
Zwei Tote lagen schwarz im Januar Brasiliens. Ein Feuer,
das seit Tagen durch die Wildnis einer Insel sprang und ver-
kohlte Schneisen hinterließ, hatte die Leichen von einem Ge-
wirr blühender Lianen befreit und ihnen auch die Kleider von
ihren Wunden gebrannt: Es waren zwei Männer im Schatten
eines Felsüberhanges. Sie lagen wenige Meter voneinander
entfernt in menschenunmöglicher Verrenkung zwischen Farn-
strünken. Ein rotes Seil, das die beiden miteinander verband,
verschmorte in der Glut.
Das Feuer loderte über die Toten hinweg, löschte ihre Augen
und Gesichtszüge, entfernte sich prasselnd, kehrte im Sog der
eigenen Hitze noch einmal wieder und tanzte auf den zerfal-
lenden Gestalten, bis ein Wolkenbruch die Flammen in die
eisengraue Asche gestürzter Quaresmeirabäume zurücktrieb
und schließlich alle Glut in das feuchte Herz der Stämme
zwang. Dort erlosch der Brand.
So blieb ein dritter Leichnam von der Einäscherung ver-
schont. Weitab von den Überresten der Männer lag eine Frau
unter Luftwurzeln und schaukelnden Trieben. Ihr schmaler
Körper war von Schnabelhieben zerhackt, ein Fraß schöner
Vögel, war zernagt, ein Labyrinth der Käfer, Larven und Flie-
gen, die diese große Nahrung umkrochen, umschwirrten, um-
kämpften: ein Flor aus seidig glänzenden Flügeln und Panzern;
ein Fest.
Der Pilot eines Vermessungsflugzeuges, das in diesen Tagen
über der Bahia de São Marcos dröhnende Schleifen zog und
vor aufziehenden Sturmwolken immer wieder nach dem Cabo
do Bom Jesus abdrehte, sah auf jener felsigen, kaum zehn
Seemeilen vor der Atlantikküste umbrandeten Insel die Bänder
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