Yukio Mishima - Nach dem Bankett.pdf

(992 KB) Pobierz
Nach dem Bankett
Literatur für Jedermann
Y M
Nach dem Bankett
Roman
247380108.005.png
Original
Autor: Yukio Mishima
Titel: Utage No Ato
Jahr: 1960
Sprache: japanisch
Vorlage
Übersetzung: Sachiko Yatsushiro aus dem Japanischen, 1967
Verlag: Ernst Rowohlt Verlag Reinbek, 1967
ISBN: —
eBook
Version: 1.00 Testversion ID2
Korrekturen sind immer willkommen.
247380108.006.png
 
Nach dem Bankett
Das Gasthaus
Das Setsugoan – die Schneeklause – lag auf einer Anhöhe im hügeligen
Koishikawa, einem Stadtteil von Tokio. Es war glücklicherweise von den
Verwüstungen des Krieges verschont geblieben. Nichts war zerstört worden,
weder der berühmte, fast   Quadratmeter große Garten, der im Stile von
Kobori Enshu angelegt war, noch das Pfauen-Tor aus einem bekannten Tempel in
Kioto; unbeschädigt waren auch Eingang und Gästepavillon eines alten Tempels
aus Nara, den man abgetragen und unverändert hier wieder errichtet hatte,
sowie der große Saal, der erst in neuerer Zeit gebaut worden war.
In den Nachkriegsjahren, während der Umwälzungen, die die neu festgesetzte
Vermögenssteuer mit sich brachte, wechselte Setsugoan seinen Besitzer; von
einem Industriellen, einem Kenner und Liebhaber der Teezeremonie, ging es in
die Hände einer schönen, energischen Frau über. Und es dauerte nicht lange, da
wurde es ein berühmtes Gasthaus.
Der Name der Besitzerin war Fukuzawa Kazu. Kazu, eine schöne, üppige Frau,
hatte etwas Urwüchsiges, Kraftvolles und Leidenschaftliches an sich. Menschen
mit Komplexen schämten sich ihrer Komplexe, wenn sie vor Kazu traten;
und Menschen, die mutlos waren, schöpften entweder neue Hofnung oder
gaben sich völlig auf. Eine Frau, die durch die Gnade des Himmels männliche
Entschlossenheit und weibliche Leidenschaft in sich vereinte, war dazu
geschafen, mehr zu erreichen, als ein Mann je erreichen konnte.
Kazu hatte eine strahlend heitere Natur und einen absolut unbeugsamen
Charakter; beides ließ ihr Wesen anziehend und lauter erscheinen. Schon
von jung auf hielt sie es für wünschenswerter, selber zu lieben, als geliebt zu
werden. Hinter ihrer urwüchsigen Naivität verbarg sich ein gewisser Hang zur
Aufdringlichkeit. Bosheit und Arglist der Menschen bestärkten sie nur noch in
ihrer Großmut und Ofenherzigkeit.
Kazu besaß schon seit einer Reihe von Jahren mehrere Freunde, deren
Zuneigung nichts mit Liebe zu tun hatte. Zu ihnen gehörte auch, seit
verhältnismäßig kurzer Zeit, der Politiker Nagayama Genki, eine hinter den
Kulissen arbeitende, führende Persönlichkeit der konservativen Partei. Er liebte
die um zwanzig Jahre jüngere Kazu wie eine kleine Schwester.
»Sie ist eine ungewöhnliche Frau«, plegte er zu sagen. »Sie wird sicher noch
einmal etwas Außerordentliches tun. Wenn man ihr sagte: ›Stelle Japan auf den
3
247380108.007.png
 
Yukio Mishima
Kopf‹, wäre sie dazu imstande. Ein Mann mit ihren Anlagen wäre ein Teufelskerl;
aber da sie eine Frau ist, wird man von ihr höchstens sagen, sie sei tüchtig. Es
müßte ein Mann kommen, der ihr zeigt, was Liebe ist; erst dann würde sie sich
wirklich entfalten.«
Als man ihr dies erzählte, war Kazu davon keineswegs unangenehm berührt.
Aber zu Nagayama Genki sagte sie: »Herr Nagayama, Sie sind nicht der Mann,
der mich entlammen könnte; auch wenn Sie noch so selbstbewußt und
machtvoll auftreten – mich vermögen Sie nicht zu fesseln. Sie können Menschen
gut beurteilen, ja, aber die Kunst des Verführens ist nicht Ihre starke Seite.«
»Ich will dich ja gar nicht verführen! Wenn ich aninge, dir den Hof zu machen,
wäre es bald um mich geschehen«, meinte der alte Politiker boshaft.
Als das Restaurant Setsugoan zu lorieren begann, konnte man auch etwas
mehr Geld für die Plege des Gartens aufwenden. Im Mittelpunkt, an der
Südseite des Gästepavillons aus dem Nara-Tempel, lag ein Teich. Vor allem
bei Mondscheinfesten hielt man sich gern dort auf. Rings um den Garten
standen hohe alte Bäume, wie sie im heutigen Tokio selten geworden sind:
Kiefern, Kastanien, Zürgelbäume und Castapopsis. Ehrfurchtgebietend ragten
sie in den blauen Himmel, der hier noch nicht von modernen Großstadtbauten
verunstaltet war. In den Wipfeln einer besonders schönen Kiefer hatte sich seit
einiger Zeit eine Weihe eingenistet, und gelegentlich kamen auch andere Vögel
in den Garten, besonders dann, wenn die Zugvögel auf die Reise gingen. Sie
ließen sich in Scharen auf der großen Rasenläche nieder, pickten nach den roten
Beeren der Nandinen und suchten Insekten. Der Lärm, den sie machten, war
ohrenbetäubend.
Jeden Morgen ging Kazu durch den Garten und gab dem Gärtner Anweisungen;
manchmal waren sie angebracht, manchmal fehl am Platz. Aber dieser Rundgang
gehörte zu Kazus Tagesprogramm und versetzte sie in gute Laune. Daher wagte
der alte erfahrene Gärtner auch nie, ihr zu widersprechen.
Bei diesen Spaziergängen im Garten genoß Kazu die Freuden des Alleinseins
und die Gelegenheit, ihren Gedanken nachzuhängen. Sie, die fast den ganzen
Tag plauderte oder sang, war kaum je allein, und obgleich sie es gewohnt war,
Gäste zu unterhalten, fühlte sie sich oft erschöpft. Der morgendliche Spaziergang
brachte ihr zu Bewußtsein, daß ihr Herz ruhig und still geworden war und kein
Verlangen mehr spürte, sich in Liebe hinzugeben.
›Die Liebe wird mein Leben nicht mehr verwirren‹, dachte sie und beobachtete,
erfüllt von dieser Gewißheit, wie die Strahlen der Sonne den Dunstschleier
zwischen den Bäumen durchbrachen und den grünen Moosteppich auf dem
Wege auleuchten ließen. Schon lange hatte sie der Liebe entsagt: ihre letzte
Leidenschaft war bereits zu einer fernen Erinnerung verblaßt. Sie war in tiefster
Seele davon überzeugt, gegen alle gefährlichen Gefühle gefeit zu sein.
4
247380108.001.png 247380108.002.png
Nach dem Bankett
Dieser Morgenspaziergang war für Kazu eine stete Quelle der Selbstsicherheit.
Sie war bereits über fünfzig. Jeden hätte wohl der Anblick dieser anmutigen Frau
mit dem jugendlichen Teint und den strahlenden Augen beeindruckt, die da in
dem großen Park langsam auf und ab wandelte, und mancher hätte gern mehr
von ihrem Leben erfahren. Trotzdem wußte niemand besser als Kazu, daß es
nichts mehr zu erzählen gab und das Lied bereits verklungen war. Zwar spürte
sie sich noch im Besitz aller Lebenskräfte, wußte aber zugleich, daß diese bereits
gehemmt waren und nachließen und sich nicht mehr zügellos verströmen
würden.
Der große, weite Park und die Häuser, ein ansehnliches Bankkonto und
Wertpapiere, ihre einlußreichen und großzügigen Gäste aus Politik und
Wirtschaft verbürgten Kazu einen sicheren Lebensabend. Sie hatte es zu etwas
gebracht und brauchte sich nicht mehr davor zu fürchten, daß die Leute sie
haßten oder hinter ihrem Rücken über sie redeten. Sie gehörte zur Gesellschaft,
wurde verehrt, ging vornehmen Vergnügungen nach, konnte sich einen fähigen
Verwalter leisten und brauchte auf Reisen und Gesellschaften mit Trinkgeldern
nicht zu sparen. Sie konnte ihren Lebensabend in Wohlstand und Überluß
verbringen.
Wenn Kazu solche Gedanken durch den Kopf gingen, verhielt sie den Schritt
und setzte sich auf die Bank neben dem Eingang. Dann ließ sie ihren Blick über
den schmalen, bemoosten Weg wandern, der zum Teezimmer führte, genoß
die Strahlen der Morgensonne und beobachtete die linken Bewegungen der
umherliegenden Vögel.
Hier hörte man weder das Rattern der Straßenbahn noch das Hupen der
Autos. Die Welt war ein regloses Bild. Wie war es möglich, daß Gefühle, die
einmal gelodert hatten, ohne eine Spur zu hinterlassen, verlöschten? Kazu
konnte es nicht begreifen. Wie konnte sich etwas in Nichts aulösen, das einmal
ihren ganzen Körper erfüllt hatte? Es erschien ihr wie eine Lüge, daß der Mensch
durch die Erfahrungen, die er sammelt, wachse und reife. Vielleicht war der
Mensch eher wie ein dunkles Ablußrohr, durch das alles mögliche hindurchloß,
oder wie das Plaster einer Kreuzung, auf dem viele Fahrzeuge ihre Spuren
hinterlassen hatten? Das Rohr wurde brüchig, das Plaster verwitterte, aber auch
sie waren einmal gleichsam jungfräulich gewesen.
Kazu wußte schon lange nicht mehr, was es hieß, blindlings vor sich hinzuleben.
Für sie war jetzt alles hell und klar wie der Anblick dieses Gartens am Morgen.
Alle Dinge hatten scharfe Konturen, nichts war doppeldeutig in dieser Welt. Sie
glaubte sogar, sie könne den Menschen ins Herz schauen. Es gab nicht mehr viel,
worüber sie sich wunderte. Wenn sie erfuhr, daß jemand seinen Freund betrogen
hatte, dann dachte sie: ›Das kommt öfter vor.‹ Und wenn jemand sich einer Frau
wegen ruiniert hatte, dachte sie: ›Das ist keine Seltenheit.‹ Gewiß war nur, daß sie
5
247380108.003.png 247380108.004.png
Zgłoś jeśli naruszono regulamin