Granger, Ann - Fran Varady 01 - Nur der Tod ist ohne Makel.pdf

(940 KB) Pobierz
Ann Granger
Ann Granger
Nur der Tod ist ohne Makel
Fran Varadys erster Fall
Aus dem Englischen von Axel Merz
BLT
Band 92.117
274460635.003.png 274460635.004.png
1. + 2. Auflage: Dezember 2002
BLT ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe
Titel der englischen Originalausgabe: ASKING FOR TROUBLE
erschienen bei Headline Book Publishing.
A division of Hodder Headline PLC
© 1997 by Ann Granger
© für die deutschsprachige Ausgabe 2002 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Einbandgestaltung: Gisela Kullowatz
unter Verwendung einer Fotografie von Karin Engels
Autorenfoto: © by Petra Holmes
Lektorat: Beate Brandenburg/Stefan Bauer
Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen
Druck und Verarbeitung: Eisnerdruck, Berlin
Printed in Germany
ISBN 3-404-92.117-8
Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
274460635.005.png
KAPITEL 1 Der Mann vom städtischen Wohnungsamt kam am Mon-
tagmorgen. Er stellte uns Vorladungen zu, jedem eine eigene.
»Alles genau nach Vorschrift!«, verkündete er mit einer Stimme,
die schrill klang vor Nervosität. Er war nicht besonders alt, besaß
lockiges Haar und ein rundliches Puttengesicht und gab im Übrigen
sein Bestes, um Autorität auszustrahlen, doch man bemerkte seine
aufkeimende Panik.
Ich kann bis heute nicht glauben, dass er wirklich Angst vor uns
hatte. Sicher, wir waren in der Überzahl, aber wir waren für ihn keine
Fremden. Er und eine Anzahl seiner Kollegen waren schon früher
hier gewesen. Wir hatten sie damals immer wieder ausgesperrt, so-
dass sie zum Fenster herauf schreien mussten, um mit uns zu reden.
Doch an diesem Tag hatten wir ihn reingelassen. Es war der Tag der
Entscheidung. Wir wussten es, und er wusste, dass wir es wussten.
Geistreiche Unterhaltungen zwischen Bürgersteig und Fenstersims
waren nicht länger angebracht. Es war ein eigenartig wortkarges Ende
eines sehr lang geführten Disputs.
Dennoch beobachtete er uns misstrauisch, als fürchtete er, wir
könnten die Vorladungen in einem letzten Protest zerreißen. Squib
nahm seine aus dem Umschlag und drehte sie um, als erwartete er,
dass auf der Rückseite etwas geschrieben stünde. Terry schob ihre
achtlos in die Tasche ihrer Strickjacke. Nev sah einen Augenblick
lang drein, als wollte er sich weigern, die Vorladung entgegenzuneh-
men, doch schließlich resignierte er. Ich nahm meine und sagte:
»Danke für gar nichts.«
Der Beamte räusperte sich. »Ich werde morgen bei Gericht sein,
zusammen mit dem Anwalt der Gemeinde, und einen Antrag auf
sofortige Räumung stellen. Wir gehen davon aus, dass er genehmigt
wird. Wir sind bereit, Ihnen Zeit bis Freitag einzuräumen, um alter-
native Wohnmöglichkeiten zu finden. Doch die Angelegenheit ist
nun vor Gericht und geht ihren Weg. Es hat also keinen Zweck, mit
mir zu diskutieren! Diskutieren Sie morgen mit dem Richter, wenn
Sie wollen. Aber es wird Ihnen nichts nützen.«
Er war immer noch in der Defensive, auch wenn sich niemand die
Mühe machte, ihm zu antworten. Wir hatten von Anfang an gewusst,
dass wir verlieren würden. Trotzdem, das Bewusstsein, dass wir
draußen waren, klumpte uns die Mägen zusammen. Ich wandte mich
ab und starrte aus dem Fenster, bis ich meine Gesichtsmuskeln wie-
der unter Kontrolle hatte.
274460635.006.png
Es war einer von jenen schiefergrauen Vormittagen, die aussehen,
als würde es jeden Augenblick anfangen zu regnen, auch wenn der
Regen dann noch bis zum Abend auf sich warten lässt. Eine dichte
Wolkendecke drückte die Autoabgase und all die anderen Gerüche
hinunter in die Straßen. Man konnte sogar den Geruch von gebrate-
nem Fleisch und Zwiebeln aus der Wild West Hamburger Bar wahr-
nehmen, die zwei Straßen weiter lag.
Ich hatte mich an jenem Morgen nicht besonders gut gefühlt, be-
reits vor dem Eintreffen unseres Besuchers, denn ich hatte am voran-
gegangen Freitag meinen Job verloren. Der Manager hatte herausge-
funden, dass meine Adresse »rechtswidrig« war, und das war alles.
»Rechtswidrig« bedeutete, dass ich gegenwärtig in einem besetzten
Haus wohnte.
Obwohl unsere Besetzung genau genommen illegal war, hatte
niemand uns daran gehindert, in ein leerstehendes – und allem äu-
ßeren Anschein nach besitzerloses – Haus zu ziehen, und inzwischen
wohnten wir so lange dort, dass wir ein Gefühl von Dauerhaftigkeit
entwickelt hatten. Mehr noch, wir hatten ein Ziel. Wir nannten uns
die Jubilee Street Creative Artists’ Commune, auch wenn keine unse-
rer Arbeiten geeignet gewesen wäre, eine Subvention aus städtischen
Mitteln oder der Nationalen Lotterie zu gewinnen. Doch zwischen
dem endgültigen Absturz in die Tiefe und der Eingliederung in die
Normalität planten wir gewaltige Karrieren, geboren in der Anonymi-
tät der Jubilee Street, ganz gleich, wie unsere individuellen Geschicke
aussehen mochten. Wir täuschten uns selbst auf jede nur erdenkli-
che Weise. Träume schlagen die Wirklichkeit eben jeden Tag aufs
Neue.
Übrigens muss ich Squib aus unserem großen Karriere-Szenario
ausklammern. Squib lebte konsequent von einem Tag zum anderen
und trug nicht einmal den Ansatz eines Plans mit sich herum. Jeden-
falls nichts, wovon irgendeiner von uns je gehört hätte.
Nev hatte Pläne. Sie kamen daher in Form einer zwanzigseitigen
Synopse für seinen großen Roman, der in seiner Länge wohl Krieg
und Frieden Konkurrenz machen würde. Tag für Tag schrieb er un-
ermüdlich auf einer alten mechanischen W-H.-Smith-
Schreibmaschine vor sich hin. Noch heute frage ich mich manchmal,
ob er seinen Roman je beendet hat.
Squib war Pflastermaler. Er konnte alles kopieren. Manche werden
sagen, dass seine Malerei nicht das Schöpferische zur Kunst besitze,
weil er nichts Eigenes erschaffe, doch sie haben nicht gesehen, was er
274460635.001.png
mit einer Kiste voller Kreide und ein paar sauberen Platten auf einem
Gehweg alles bewerkstelligen konnte. Alte Meister, von brauner Fir-
nis und Zeit zu Museumsstücken degradiert, erwachten unter Squibs
geschickten Händen zu neuem Leben. Sie sprachen so beredt zu den
Passanten, dass manche wegen der Lebendigkeit der Kreidegesichter
unter ihren Füßen sichtlich aus der Fassung gerieten. Einmal kam
ein Kunstkritiker vorbei und begeisterte sich derart für Squibs Arbei-
ten, dass er davon sprach, ihn der ganzen Welt vorzustellen, ein
Zwischenfall, der Squib richtiggehend peinlich war. Die Vorstellung,
vom Establishment vereinnahmt zu werden, versetzte Squib in derar-
tige Panik, dass er sich mit seiner Schachtel Kreide davonstahl und
eine Zeit lang in der Provinz das Pflaster bemalte, bevor er es für
sicher genug hielt, nach London zurückzukehren.
Was mich anging, ich klammerte mich noch immer an meinen
Kindheitstraum, Schauspielerin zu werden. Das Leben war mir ir-
gendwie in den Weg gekommen. Ich war am College in einem Kurs
in Dramatik durchgefallen. Seither hatte sich mir die Rolle des Büh-
nen- und Bildschirmstars, abgesehen von einigen Auftritten beim
Straßentheater, irgendwie entzogen. Ich hoffte noch immer, es eines
Tages zu schaffen. Kurzfristig war ich voll und ganz damit beschäftigt,
mich über Wasser zu halten. Und ein Auge auf die beiden anderen
zu haben.
Wir drei waren als Erste in das Haus gezogen. Kurze Zeit später
hatte sich Declan zu uns gesellt, ein kleiner drahtiger Bursche mit
wirrem, schulterlangem Haar und einem gutmütigen, elfenhaften
Gesicht. Er war an beiden Armen stark tätowiert; auf einem prangte
eine Furcht erweckende Schlange, auf dem anderen ein Herz Jesu. Er
erinnerte sich daran, wie er sich das Herz hatte eintätowieren lassen,
doch wie die Schlange auf seinen Arm gekommen war, wusste er
angeblich nicht mehr. Er sei eines Morgens mit einem gewaltigen
Kater aufgewacht, und da wäre sie gewesen und an seinem Arm em-
porgekrochen. »Ich dachte im ersten Augenblick, ich hätte ein Deli-
rium tremens«, sagte er. Manchmal streckte er seinen Arm vor sich
aus und betrachtete die Schlange nachdenklich. Ich glaube, es be-
schäftigte ihn wirklich.
Declan war als Rockmusiker ohne Band zu uns gestoßen. Sein
früherer Lead-Gitarrist war beim Proben in einem Kirchensaal durch
einen elektrischen Schlag gestorben.
»Die Haare standen dem armen Kerl zu Berge«, erzählte Declan in
trauriger Verwunderung. »Gott sei seiner Seele gnädig, aber es war
274460635.002.png
Zgłoś jeśli naruszono regulamin