Michael K. Iwoleit - Wege ins Licht.pdf

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Michael K. Iwoleit
"O fools (said I), thus to prefer dark night
Before true light,
To live in grots, and caves, and hate the day
Because it shows the way,
The way which from the dead and dark abode
Leads up to God,
A way where you might tread the Sun, and be
More bright than he."
Wege ins Licht
Novelle
- Henry Vaughan
In admiration to James Gunn,
Philip Klass und Damon Knight
ch brauchte Jahre, bis ich nach Armaghaust zurückfand. Der Wind hatte
meine Asche weit in die Wüste hinausgetragen, und ich erblickte in einer fel-
sigen Einöde wieder das Licht der Sonne, die mir die einzige Orientierung bot.
Alle paar Tage erlag ich dem Hunger, dem Durst und der Erschöpfung, und
jedesmal, wenn ich aus dem heißen Staub wieder auferstand, schleppte ich mich
langsamer weiter. Ich hatte längst vergessen, warum ich zurückkehren wollte,
und alle Erinnerungen an meine früheren Leben und meine früheren Tode waren
zur Bedeutungslosigkeit verblaßt, als ich endlich am Horizont den blaßgrünen
Saum des Flußtals erblickte.
SF-Fan.de »Story des Monats«
© Michael K. Iwoleit, 2000
Alle Rechte vorbehalten
Nach Märschen durch Geisterstädte, deren Häuserschluchten ich nach Kleidung
und Proviant durchsuchte, nach endlosen Tagen unter einem glühenden Himmel,
der mir jeden Tropfen Feuchtigkeit aus dem Körper sengte, nach Delirien und
Fieberträumen und zwei letzten Zusammenbrüchen, als ich schon die Nähe des
Meeres roch, erreichte ich in einer klaren, lauen Nacht das Buschwerk, das einen
halb versiegten Nebenarm des Styx umwucherte. Ich erfrischte mich in dem
schlammigen Wasser, lag stundenlang auf einer Sandbank und ließ mir die
schwache Strömung in den Mund schwappen, pflückte bittere Beeren von den
Dornsträuchern, und als es mir besser ging, spaltete ich an einem Felsen am Ufer
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einen Kieselstein und schnitt mir mit der scharfen Kante die Kehle durch. Es war
der angenehmste, friedlichste Tod, an den ich mich erinnern kann.
Ruinen und Baracken, in dem nur spärlich verstreute Lichter flackerten. Ich stol-
perte wie von Sinnen den Hügel hinunter, lief immer schneller, bis ich kaum
mehr atmen konnte, und blieb erst stehen, als ich unter meinen Füßen den
Asphalt einer Straße spürte. Ich weiß nicht mehr, wieviel mir in dieser Nacht
durch den Kopf ging und wieviele alte Schmerzen mir das Herz zusammen-
krampften, während ich unter dem Abfall in einer Seitengasse zu schlafen ver-
suchte.
Die Viren erweckten mich in einer Stimmung milder Zuversicht wieder zum
Leben. Ich kam schnell zu neuen Kräften und erlebte es wie ein Wunder, als ich
in den nächsten Tagen der längste Spanne, die ich seit ewiger Zeit an einem
Stück gelebt hatte erst auf das hüfttiefe Rinnsal stieß, das mir als der mächti-
ge Styx in Erinnerung war, und dann dem alten, hohlen Flußbett zur Stadt folg-
te. Die Schatten der Bäume auf den Dämmen, der milde, salzige Wind vom Meer
und die eine oder andere Ratte, die ich erschlug und roh verzehrte, besserten
meinen Zustand soweit, daß ich mich allmählich wieder wie der fühlte, der ich
einmal gewesen war.
In den Jahren meiner Abwesenheit war Armaghaust zur Stadt der Unsterblichen
geworden. Ich sah sie überall, als ich am nächsten Tag, überwältigt und wie trun-
ken, durch immer belebtere Straßen dem entgegen wanderte, was unweit der rie-
sigen Hafenanlagen am Hauptarm des Deltas vom Herzen der Stadt übriggeblie-
ben war, den immer noch überlaufenen, fiebrigen Vierteln der Kaufleute,
Vergnügungssüchtigen und Spieler. Es erstaunte und erleichterte mich gleicher-
maßen, daß eine zerlumpte, abgekämpfte Gestalt wie ich nirgends das geringste
Aufsehen erregte, weil der Mehrheit der Menschen auf den Straßen anzusehen
war, daß sie viele Male die Qualen der Wiedergeburt durchgestanden hatten. Die
künstlichen Organismen, die den Fluch der Unsterblichkeit über uns gebracht
haben, sind die erstaunlichsten, gründlichsten Maschinen, die die Menschheit je
ersonnen hat, doch vollkommen sind sie nicht. Bei jedem dieser komplizierten
Vorgänge, wenn ein Mensch aus seinen sterblichen Überresten rekonstruiert
wird, kommt es zu Fehlern und Abweichungen, die sich im Laufe vieler Wieder-
geburten zu dem schwärigen, tumorigen Aussehen summieren, das während
meiner Wanderung durch die Wüste mein altes Gesicht überwuchert hatte. An
diesem Tag sah ich Dutzende Menschen, die sogar das Ausmaß meiner Ent-
stellungen übertrafen.
Ich kam an Dutzenden verfallenen und verlassenen Siedlungen vorbei, an bra-
chen Feldern und Plantagen, kletterte über eingestürzte Brücken hinweg und
erklomm Hügel, um immer begieriger den Dächern Armaghausts entgegenzuge-
hen. Ich konnte nur ahnen, wieviele Jahre seit meinem Feuertod eine stetig hei-
ßere Sonne Zeit gehabt hatte, die Landschaft zu verheeren, die von den verwil-
derten, kaum mehr fruchtbaren Ufern des Styx in zwei Ebenen zerteilt wurde. Es
geschah wiederum an einem Abend, daß ich, ins Zwielicht eines märchenhaften
Sonnenuntergangs getaucht, eine Anhöhe zwischen den Ausläufern der
Vorstädte erstieg und mit einem Schock, der auf einmal eine ganze Schicht ver-
schütteter Erinnerungen freilegte, die Entdeckung machte, daß ich mein Ziel
erreicht hatte.
Armaghaust ist heute, vom Vorrücken der Wüste auf der einen und dem
Ansteigen des Meeres auf der anderen Seite auf ein Viertel geschrumpft, wieder
eine lebendige Stadt, wenn auch eine, deren Tage gezählt sind. Damals war sie
noch weit stärker, als ich befürchtet hatte, von den Pogromjahren gezeichnet. Sie
breitete sich unter mir wie ein unermeßlicher Flickenteppich von Verfall und
Verwüstung bis zur Küste aus, wie eine ins Land gebrannte Wunde, die das
Mündungsdelta des Styx wie ein Aderngeflecht durchzug, ein Labyrinth aus
Ihre Gegenwart drückte bleischwer auf den Lebensmut der wenigen Sterblichen,
die unter ihnen ihr grotesk natürliches Dasein fristeten. In Armaghaust, so fand
ich schnell heraus, war die Erkenntnis zum Allgemeingut geworden, daß man
einem Unsterblichen nichts abschlagen, ihm mit nichts drohen und ihn von
nichts abhalten kann. Keiner der verdrossenen Straßenhändler, die spärliche
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Fisch- und Krabbenfänge, auch ein paar anspruchslose Gemüse- und Getreide-
sorten feilboten, raffte sich zu mehr als einem mißmutigen Blick auf, wenn ich
mir, vom Hunger getrieben, einfach etwas aus ihren Körben griff und davonlief.
In keinem der großen, überfüllten Gasthäuser, die in ihrer Kahlheit an Wartesäle
erinnerten, gab jemand etwas darum, wenn ich mir selbst einschenkte und gierig
trank, wonach mir gerade der Sinn stand. Dennoch wurde überall im Zentrum
getauscht, gefeilscht und gehandelt, oft heftig und verbissen, doch zugleich so,
als hätten sich Hunderttausende auf ein Ritual von Scheinnormalität geeinigt,
das niemand in Frage zu stellen wagte.
auf einem Kiesstreifen von fünfzig Metern Breite nur noch wenige, zumeist ver-
lassene Hütten, zum Meer hin von einem unförmig aufgeschütteten, längst nicht
mehr neuen Damm abgegrenzt, gegen den eine ohrenbetäubende Brandung
antoste. Ich schlurfte über ölverschmierte Kiesel weiter und schaute, wo Licht
brannte, durch Fenster aus Plastikfolien und Fliegengittern. Keine der Gestalten,
die dahinter auf Obstkisten und alten Stühlen zusammenhockte, bemerkte mich.
Oben auf dem Damm erfaßte mich eine Stimmung heftiger Nostalgie und
Sehnsucht, die dadurch verschlimmert wurde, daß mir nur Bruchstücke von dem
einfielen, woran ich mich hier erinnern wollte. Ich hockte mich ins salzverkrus-
tete Gras und starrte in die tiefstehende Sonne, als hegte ich die absurde
Hoffnung, mein Blick könne über den Horizont hinaus dringen und wenigstens
eine der Inseln ausmachen, die doch inzwischen längst im Meer versunken sein
mußten. Die See war um ein Vielfaches aufgewühlter als damals, und einzelne
Brecher schlugen bis über die Deichkrone hinaus und ließen mich bald vor
Nässe und Kälte frieren. Ein stürmischer Wind kam auf, der mich in die Pfützen
niederdrückte, doch ich wich um keinen Schritt zurück, wollte einfach alles so
intensiv empfinden, wie es irgend ging.
Die einzige andere Menschengruppe, die der Stadt ihren Stempel aufgedrückt
hatte, waren die Handwerker, Tüftler und Bastler. Nichts, das in Armaghaust
noch irgendwie funktionierte, sei es ein Gasbrenner in einer Straßenküche, eine
der Laternen, die zur Dämmerung ihre unsteten Lichtkreise auf die Gehsteige
warfen, oder eins der wenigen motorbetriebenen Fahrzeuge auf den Straßen, war
frei von den Spuren mühseliger, improvisierter Instandhaltung. Einige besonders
frequentierte Gebäude im Zentrum, Bordelle und Kaschemmen vor allem, waren
Kunstwerke notdürftiger Ausbesserung und mit Schutt und Schrott auf erfinde-
rische Weise ausgebaut worden. Es schien mir, als habe man ganze Viertel der
Stadt geplündert, damit in diesen wenigen Quadratkilometern am Hafen das
Leben gerade so weitergehen konnte, als sei nichts geschehen.
Irgendwo dort draußen, in dem Archipel einige hundert Kilometer vor der Küste,
war ich zu einer Zeit, die mir fern wie ein kosmisches Ereignis vorkam, als
Angehöriger eines der zahlreichen kleinen Völker zur Welt gekommen, die spä-
ter von den Festlandbewohnern summarisch und verächtlich als die Insulaner
bezeichnet wurden. Die ganze Nacht verbrachte ich damit, mir zu vergegenwär-
tigen, was ich sicher zu wissen glaubte, und hatte doch am Ende keine Klarheit
darüber, was ich vielleicht nur phantasierte. Ich erinnerte mich an einige Inseln,
die ich als Kind besucht hatte, an ein Fischerdorf in Rufweite eines weißen
Sandstrandes, in dem ich aufgewachsen war, an meine Familie und meinen
Vater, der sich davongemacht hatte, als er uns nicht mehr ernähren konnte. Ich
erinnerte mich, daß wir immer weiter ins Inselinnere und später auf eine größe-
re Insel umgezogen waren, als der Meeresspiegel anstieg und ein Eiland nach
dem anderen verschluckte. Ich erinnerte mich an Hungersnöte, die ausbrachen,
Ich sprach mit niemandem. Ich sah keinem einzigen Menschen in die Augen,
während ich innerlich geblendet durch die Straßen irrte wie jemand, der nach
jahrelangem Aufentalt in einer Höhle ins Freie kriecht und wieder die Sonne
sieht. Ich weiß nicht, welcher rätselhafte Drang, mich selbst zu verletzen, mich
von den Menschenmassen, die ich eine Ewigkeit lang herbeigesehnt hatte, weg-
und in die Finsternis der alten Hafenviertel hineintrieb, wo ich meine schrek-
klichsten Erfahrungen gemacht hatte. Über die gewaltige Kaimauer, die die
Hafenbecken von der ständig zunehmenden Gewalt der Flut abschirmte, erreich-
te ich den felsigen Strandabschnitt, über den sich früher ein unüberschaubares
Hüttendorf erstreckt und wo ich selbst einmal gelebt hatte. Heute standen dort
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als die Bodenschätze meiner Heimat und mit ihnen der Handel mit dem Festland
versiegten und das wenige an öffentlicher Ordnung zusammenbrach, was mein
Volk auf den paar Hundert Quadratkilometern Landfläche aufgebaut hatte.
Küstenkaserne beschossen wurde, der Waffengewalt aber durch ihre schiere
Größe widerstand.
Weit schlimmer war das, woran ich mich nicht mehr erinnerte, was ich nur noch
erahnte. Ich hatte einmal eine eigene Familie gehabt, das spürte ich ganz deut-
lich. Für flüchtige Momente sah ich das schmale, verhärmte Gesicht einer Frau
vor mir, die ich geliebt hatte, und hagere, halbnackte Kinder, die meine gewesen
sein mußten. So sehr ich mich aber anstrengte, so verzweifelt ich mir die Augen
ausweinte, ich konnte aus den Tiefen meiner Erinnerungen nicht mehr bergen.
Heute weiß ich, daß mit jeder Auferstehung nicht nur die äußere Erscheinung,
sondern auch das Gedächtnis beeinträchtigt wird und oft gerade das verloren-
geht, was einem am wertvollsten ist. Nur das Gefühl, das etwas fehlt, die tauben
Stellen im Gedächtnis scheinen unauslöschlich zu sein.
Die Stadt war der Sintflut von Menschen nicht gewachsen, ihre Behörden hilf-
los. Nach Jahren der gefahrvollen, schleichenden Einwanderung erreichten wir
binnen weniger Monate die kritische Masse, die jeden Widerstand gegen die
Flüchtlingsinvasion brach. Unversehens waren wir überall, verkrochen uns in
Tunneln, Kellern, Einfahrten, Bahnhöfen und der Kanalisation, schliefen in allen
Seitenstraßen, Gassen und Hinterhöfen, wo zwischen Bergen von Müll noch
Platz blieb, stahlen, bettelten, schnorrten und heischten mit den aufgedunsenen
Leibern unserer Kinder Mitleid. Wir brachen in Läden und Lager ein, überfielen
Gütertransporte und plünderten zuletzt gar die Plantagen an den Ufern des Styx.
Doch all das rettete uns nicht davor, in ebensolchen Massen zu verhungern und
zu verdursten wie die Obdachlosenheere, die vor uns den Haß der Altein-
gesessenen erregt hatten und denen wir den Platz zwischen ihren Hütten am
Meer, in den Ruinenghettos der alten Stadtvierteln und den neuen, wildwuchern-
den Vorstadtslums streitig machten. Die erste Zeit fiel es gar nicht ins Gewicht,
daß es immer häufiger zu blutigen Zusammenstößen zwischen uns und den
anderen Flüchtlingen kam, denn für jeden Erschlagenen, Totgetretenen und Er-
stochenen, für jeden ersäuften Säugling und jede zu Tode geschändete Frau rük-
kten zwei andere nach. Niemand wird je erfahren, wieviele Menschen sich am
Ende in den Straßen von Armaghaust zusammendrängten, ob es dreißig, vierzig
Millionen waren oder vielleicht noch mehr.
Es ist mein Fluch, daß mein Schicksal so ungnädig war und mir die meisten
Erinnerungen an die Zeit in Armaghaust gelassen hat. Ich hatte mich damals erst
spät den unzähligen Jugendlichen angeschlossen, die in lächerlich untauglichen
Schiffen und Booten, manchmal sogar auf selbstgezimmerten Flößen die Reise
in das gelobte Land antraten, für das wir die einzige Metropole hielten, die sich
entlang eines Küstenstreifens von fünfhundert Kilometern Länge gehalten hatte.
Wir überschätzten, was die beackerten Uferregionen des Styx für die Versorgung
der Stadt noch hergaben. Wir wollten uns von den wenigen Vernünftigen oder
besser Unterrichteten nicht darüber belehren lassen, daß die Flüchtlinge aus den
sterbenden Städten des Um- und Hinterlandes die Bevölkerung von Armaghaust
bereits auf über zwanzig Millionen hatte anschwellen lassen und in den Küsten-
und Vorstadtslums ein Elend herrschte, das dem unseren gleichkam. Anfangs
entgingen nur wenige von uns den Unwettern auf dem Meer und den
Kanonenbooten der Küstenwache. Dann wurde in der Heimat der Lebensraum
so knapp, daß selbst die Ältesten und Feigsten flüchteten und wir zu
Zehntausenden, hungrig und zerschunden, an der Küste landeten. Ich selbst
segelte in einer Armada von Fischerbooten mit, die vor Armaghaust aus einer
Die ersten Versuche, diese Massen an menschlichem Treibgut mit militärischer
Gewalt zurückzudrängen, endeten kläglich. Hundert- und Tausendschaften
stürmten die Slums und von Flüchtlingen okkupierten Viertel, lösten Tumulte
und Krawalle aus, die ihnen einige Male Vorwände für Massenerschießungen
lieferten, meist aber damit endeten, daß die Soldaten von der Unzahl potentiell-
ler Opfer überrannt und niedergemacht wurden. Ich erinnere mich noch, in wel-
che Atmosphäre auswegloser, rasender Hysterie sich die ganze Stadt hineinstei-
gerte, während die Grausamkeiten der Flüchtlinge untereinander immer exzess-
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siver wurden und die Truppen mit immer drastischeren Mitteln gegen uns vor-
gingen, erst Explosivgeschossen und Brandbomben, dann chemischen Keulen,
die uns Lungen und Eingeweide verätzten und das spärliche Trinkwasser vergif-
teten. In den letzten Monaten, als uns das Sterben noch möglich war, hat es wohl
niemanden in Armaghaust gegeben, der nur eine Nacht ruhig schlafen konnte,
den das Klagen und Geschrei überall, das Pfeifen der Geschosse und der Lärm
der Detonationen nicht halb in den Wahnsinn trieben. Keiner hätte sich vorstell-
len können, daß all das nur der Anfang von viel Schlimmerem sein sollte.
Ich entging der ersten Welle, weil ich die Kopflosigkeit der Menge nutzte und
mich mit Dutzenden anderen in einem Abwasserkanal versteckte. Ich entging
auch der zweiten Welle, als die Schwarzen Brigaden zwei Nächte später, unbe-
merkt von den Wachposten, vor meiner neuen Unterkunft am Strand auftauch-
ten und mich unter einem Bretterhaufen schwer verwundet begruben. Unter-
schiede zwischen Insulanern und Festlandflüchtlingen wurden längst nicht mehr
gemacht. Es müssen eine Viertelmillionen Frauen, Männer und Kinder unter-
schiedlichster Herkunft gewesen sein, unter denen in dieser Nacht am längsten
und majestätischsten Strand von Armaghaust eine Panik ausbrach. Ich sah nichts
außer den Lichtblitzen, die über mich hinwegzuckten, hörte nur von allen Seiten
die Schreie, das Kreischen und das Wimmern und darüber das gleichmäßige,
roboterhafte Stakkato der Entladungen. Nicht einmal ein Drittel von uns über-
lebte ihr Vorrücken.
Als die Schwarzen Brigaden zum Einsatz kamen, war unser erster Eindruck, sie
unterschieden sich von anderen Soldaten, außer durch ihre schwarzen Uni-
formen und Helme, einzig dadurch, daß man ihnen jede Spur Menschlichkeit
ausgetrieben hatte, daß sie bis zum Extrem völliger Empfindungs- und Mitleid-
losigkeit gedrillte Kampfmaschinen waren, ausgestattet mit allem, was die zeit-
genössische Technik an Vernichtungswerkzeugen bereitstellte. Sie erwarben sich
schnell den Ruf, zäh und unberechenbar zu sein, wie aus dem Nichts scharen-
weise dort wieder aufzutauchen, wo man sie zurückgeschlagen glaubte, sich
bedenkenlos selbst zu opfern und manchmal noch aufstehen und weiterkämpfen
zu können, wenn ihre Gegner sie längst für tot hielten. Ihre erste Angriffswelle,
der in einer einzigen kalten Spätherbstnacht, wie wir später schätzten, vierzig-
tausend Menschen zum Opfer fielen, verlieh ihnen die unheimliche Aura der
Unverletz- und Unbesiegbarkeit. Sie griffen ein Flüchtlingslager am Rande der
Südstadt an, ein improvisiertes Dorf aus zahllosen Bretter- und Wellblechhütten,
verstreut über ein Meer aus Decken, Planen, Beuteln und Kartons, wo auf zwei
Quadratmeter drei Menschen kamen, überwölbt von einer Glocke aus kränk-
lichen und fäkalen Ausdünstungen. Sie drangen von vier Seiten ins Lager ein,
das sie in Fünfzigertrupps systematisch abmarschierten, um mit ihren Strahlen-
waffen auf alles zu schießen, was sich bewegte. Augenzeugen berichteten mir,
daß es völlig aussichtslos gewesen sei, sich mit Hunderten oder Tausenden von
Menschen gegen sie zu stellen, daß sich ihre Reihen auf unerklärliche Weise
immer wieder geschlossen hätten, wieviele man auch niedermachte.
Eine dritte Welle suchte die weiten, von Wohnsilos gesäumten Straßenzüge der
Oststadt heim, wo längst die alten Armaghauster zur gejagten Minderheit gewor-
den waren, und eine vierte folgte, die verheerendste, die fast alles Leben an dem
Kiesstrand einige Kilometer südwärts auslöschte, wohin wir weitergezogen
waren, und mich, der ich zu den wenigen Überlebenden gehörte, mit den entsetz-
lichsten Schuldgefühlen zurückließ. Bei diesem Massaker muß geschehen sein,
was die Schöpfer und Befehlshaber der Schwarzen Brigaden wohl für undenk-
bar gehalten hatten. Ich lag, von drei Entladungen durchbohrt, im knöcheltiefen
Wasser und stellte mich tot, während ringsum Leichen in die See gespült und
andere oben in den Dünen mit Benzin überschüttet und angezündet wurden.
Irgendwann verlor ich das Bewußtsein und schlief durch bis zur nächsten
Dämmerung, und als ich mich aufrichtete und über das Meer der Abgeschlach-
teten hinwegblickte, wurde ich Zeuge eines Geschehens, von dem ich anfangs
annahm, es könne nur einem Alptraum entsprungen sein. Ringsum begannen die
Toten sich wieder zu regen.
Ich sollte noch oft beobachten, wie hoffnungslos verstümmelte Leichname,
abgetrennte Gliedmaßen, Haut- und Fleischfetzen, sogar Blutlachen zu zucken
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